23.02.2025 – TAZ
Wahlparty lässt sich die Ansammlung grün-affiner Menschen im Schwuz, dem traditionsreichen queeren Club in Neukölln, nicht wirklich nennen. Als um Punkt 18 Uhr auf einer Leinwand an der Stirnseite des Raums die bundesweiten Wahlergebnisse zu sehen sind und der Balken der Grünen bei 12 Prozent stehen bleibt, gibt es gerade mal Pflichtapplaus. Ein paar Momente später könnte man sich fragen, ob es sich bei der zentralen Veranstaltung der Berliner Grünen überhaupt eine ebenjener Partei handelt: Es wird nämlich richtig laut, als es um die Linkspartei geht und deren Balken auf 9 Prozent steigt. In den Führungsriegen der Parteien kennt man zu diesem Zeitpunkt meist die Tendenzen, die Meinungsforschungsinstitute leiten ihre Exit Polls, der Befragungen beim Verlassen des Wahllokals, dorthin weiter. Dennoch sieht das Gesicht des Landesvorsitzenden Philmon Ghirmai just in dem Moment, da die Prognose im Saal zu sehen ist, wie versteinert aus.
Auch die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, scheint schlucken zu müssen. Gleiches bei Co-Chefin Nina Stahr, die auf ein Bundestagsmandat über die Landesliste ihrer Partei hofft. Begeisterung sieht anders aus. Für Nina Stahr, aber noch mehr für Julia Schneider, die Direktkandidatin in Pankow, stellt sich nun die Frage: Wie wirken sich diese 12 Prozent, die eine knappe halbe Stunde später eine Hochrechnung bestätigt, in ihren Wahlkreisen aus, bei den Erststimmen? 2021 holten die Grünen bundesweit fast 15 Prozent, also fast ein Viertel mehr. Damals hieß der Wahlkreissieger in Pankow Stefan Gelbhaar, 9 Prozentpunkte lag er vor der zweitplatzierten CDU-Bewerberin. Er steht an diesem Abend kurz nach 18.30 Uhr äußerlich entspannt wirkend vor dem Eingang des Clubs, unterhält sich und trinkt ein „Früh“-Kölsch. Mittlerweile fast komplett in sich zusammen gebrochene Vorwürfe über angebliche Übergriffe brachten ihn um seine Nominierung als Kandidat und das eigentlich für die Grünen sichere Bundestagsmandat. Würde die Grünen-Anhängerschaft die zwischenzeitliche Abwahl Gelbhaars und die neue Kandidatin Schneider gutheißen? Oder, selbst wenn nicht, zumindest aus Parteiräson für Schneider stimmen, um den Wahlkreis für die Grünen zu halten? Schneider hatte sich in der letzten Wahlkampfwoche gegenüber der taz optimistisch gezeigt, von großer Motivation, vielen Wahlkampf-Helfer und guter Stimmung gesprochen. Unterschwellig aber kursierten Befürchtungen, Grünen-Anhänger könnten – enttäuscht vom Umgang der Partei mit Gelbhaar – nun SPD oder Linke wählen und damit indirekt die AfD nach vorn bringen.
In Neukölln hofft währenddessen Linken-Politiker Ferat Koçak darauf, den dortigen Wahlkreis zu gewinnen – und mit ihm 900 Menschen auf einer bereits vor Tagen restlos ausgebuchten Wahlparty der Bezirks-Linken in einem Veranstaltungssaal südlich des Tempelhofer Feldes. Es wäre bundesweit das erste Direktmandat der Linken in einem West-Wahlkreis. Um das möglich zu machen, hatte Koçak mit vielen Freiwilligen, die teils extra nach Berlin anreisten, einen intensiven Haustürwahlkampf geführt, insgesamt habe man an 139.000 Türen geklingelt – etwa zwei Drittel aller in Neukölln. In der langen Schlange, die sich vor Öffnung der Türen zur Wahlparty gebildet hatte, war die Stimmung zuversichtlich. Angesichts dieser Zahlen müsste man es eigentlich geschafft haben, so der Tenor. 2021 hatte die Linkspartei nur auf Platz vier gelegen, mit nur rund halb soviel Stimmen wie die dort erfolgreiche SPD. Die bundesweit 8 Prozent, welche die ARD-Prognose der Linkspartei nun um 18 Uhr gibt, lassen Kocak zumindest hoffen. Dass parallel dazu in Treptow-Köpenick Parteiikone Gregor Gysi zum sechsten Mal in Folge gewinnt, ist quasi eingepreist. Hoffnungen macht sich die Partei zudem in Lichtenberg, wo die Bundesparteivorsitzende Ines Schwerdtner kandidiert, sowie in Friedrichshain-Kreuzberg mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten Pascal Meiser.
Auch beim Treffen des SPD-Kreisverbands Mitte im durchaus ordentlich besuchten Restaurant Supersonico unweit des Mauerparks ist die Stimmung erstaunlicherweise gut. Die Parteilinke Annika Klose, die zusammen mit ihrem Bundestagskollegen Ruppert Stüwe aus Steglitz-Zehlendorf das Spitzenduo der Berliner Sozialdemokrat:innen bildet, hofft hier auf einen Wahlsieg. „Wir sind überzeugt, dass wir gute Antworten haben“, sagt Klose kurz vor der 18-Uhr-Prognose zu den Wahlkämpfer:innen des selbst für hauptstädtische Verhältnisse noch einmal besonders linken Kreisverbands. Es gehe darum, die Menschen zu überzeugen. „Nur leider gelingt uns das nicht immer.“ In der Tat: Mit den von der ARD prognostizierten 16 Prozent hat die Partei ihr schlechtestes Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren. Als der SPD-Balken auf dem Bildschirm erscheint, herrscht Stille. Jubel kommt nur bei den Werten der FDP und des BSW auf. Beide Parteien bleiben der Prognose zufolge unter 5 Prozent. Für Klose selbst dürfte es in Mitte am Sonntag noch schwer werden. 2021 hatte Hanna Steinmüller von den Grünen den Wahlkreis mit klarem Vorsprung gewonnen. Das Szenario könnte sich an diesem Sonntag wiederholen. Gefeiert wird trotzdem ein bisschen. Die ehemalige Berliner Jusos-Chefin ist schließlich über den SPD-Landeslistenplatz 2 vernünftig abgesichert.
Die Hoffnung auf das Direktmandat hat sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz aufgegeben. Dass die SPD insgesamt derart abschmiert, hätte sie bereits befürchtet. „Wir sind krachend abgewählt worden“, sagt Klose zur taz. Die Partei könne so nicht weitermachen. „Wenn es am Ende des Wahlabends andere Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gibt als die SPD, dann sollten wir daraus die Konsequenz ziehen.“ Und die hieße dann: Oppositionsbank. Noch bei der Aufstellung der SPD-Landesliste im Dezember hatte Berlins SPD-Chefin Nicola Böcker-Giannini die Parole ausgegeben, dass die Wahl für die Sozialdemokrat:innen längst nicht gelaufen sei. Damals stand die Partei in Umfragen bei 14 Prozent. „Wie Aufholjagd geht, wissen wir, da macht uns niemand etwas vor“, versuchte sich Böcker-Giannini als Mutmacherin. Geholfen hat es kaum. Nach der Klatsche am Sonntag sieht Böcker-Giannini ihre Partei am Scheideweg: „Entweder können wir unseren Anspruch, führende Mitte-Links Volkspartei zu sein, glaubhaft unter Beweis stellen und sich entsprechend neu aufstellen oder sie wird bedeutungslos werden.“ Ihr Co-Vorsitzender Martin Hikel kritisiert unterdessen auffällig gnadenlos den vorangegangenen Wahlkampf der eigenen Partei. Das Pokern um die Kanzlerkandidatur, der reine Abgrenzungswahlkampf zur Union und die Form der Migrationsdebatte wären kaum hilfreich gewesen. „Symptomatisch ist, dass die SPD die soziale Gerechtigkeit als ihren Markenkern durch einen egozentrierten Claim ‚Mehr für dich‘ infrage gestellt hat“, so Hikel.
Zahlen aus einzelnen Wahlkreisen hat Berlins Wahlleitung erst für später am Abend angekündigt. Die werden aber in keiner Weise repräsentativ sein: Wenn etwa die ersten ausgezählten Stimmen schwerpunktmäßig aus Neukölln-Nord kommen und dort die Linkspartei vorn liegt, sagt das wenig über Kocaks tatsächliche Chancen. Der Norden des Bezirks ist ohnehin eine Hochburg der Linken. Doch zum Wahlkreis gehören auch die südlichen Ortsteile um Buckow und Rudow, wo bei der Abgeordnetenhauswahl die CDU stark punktete. Ähnlich verhält es sich in Pankow mit den unterschiedlichen Wählergruppen im grün-affinen Prenzlauer Berg einerseits oder in Französisch-Buchholz im Norden des Bezirks andererseits, wo zuletzt die AfD erfolgreich war.
22.02.2025 – Handelsblatt: Josefine Fokuhl und Julian Olk
Vielleicht hat Robert Habeck deshalb Erfolg in den sozialen Medien, weil er der jungen Zielgruppe viel näher ist als gedacht. Der Kanzlerkandidat der Grünen sitzt in einem kleinen Fernsehstudio in einem Kölner Innenhof. Das Youtube-Format „World Wide Wohnzimmer“ wird hier gedreht und ein Video mit Habeck aufgezeichnet. Beim „Hochpetern“, einer Kombination aus Poker und Wissensfragen, wollen die Moderatoren Benni und Dennis wissen, welches gefühlte Alter der 55-Jährige sich zuschreibe. „17“, antwortet der Bundeswirtschaftsminister prompt. Aber vielleicht ist es auch die ausgeklügelte Strategie, die Habecks Interneterfolg ausmacht. Neben zwei Pressesprechern und einem Fotografen haben sich noch drei Mitarbeiter aus der Parteizentrale mit in das Kölner Studio gequetscht, die ausschließlich die sozialen Medien bespielen. Überall im Mittelpunkt: Habeck. Es ist der Wahlkampf mit der wohl stärksten Personalisierung jemals bei den Grünen. Und die funktioniert gut über Social Media. Eine neue Auswertung der Social-Media-Agentur Intermate zeigt, dass Kanzlerkandidat Robert Habeck zusammen mit der AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel in den sozialen Medien im Wahlkampf am meisten wahrgenommen wird. Die Auswertung liegt dem Handelsblatt exklusiv vor.
Entscheidend für Erfolg in den sozialen Netzwerken ist laut Intermate-CEO Philip Papendieck nicht allein die Follower-Zahl. „Entscheidend ist, ob die Botschaften die Menschen emotional erreichen und überzeugen“, sagte Papendieck dem Handelsblatt. Zudem sei wichtig, wie aktiv sich die Community mit den Inhalten auseinandersetzt. Das heißt, dass die Inhalte nicht nur gesehen, sondern aktiv diskutiert und weiterverbreitet werden. „Die Kunst der politischen Kommunikation besteht darin, Inhalte zu schaffen, die nicht nur informieren, sondern auch verbinden und die Bedürfnisse der Menschen authentisch widerspiegeln.“
Intermate hat sich für seine Untersuchung die Profile von Olaf Scholz, Robert Habeck, Friedrich Merz, Alice Weidel und Sahra Wagenknecht auf den Social-Media-Plattformen Instagram und Tiktok seit dem Ende der Ampelkoalition im November des vergangenen Jahres angeschaut. Neben der Performance dieser Spitzenleute ihrer jeweiligen Parteien analysierte die Agentur auch die Topthemen in den Kommentaren, um zu untersuchen, wie sie tatsächlich von den Social Communities wahrgenommen werden. Demnach zählen steigende Preise für Energie, Lebensmittel und Mieten zu den Hauptsorgen auf den Plattformen. Die Kandidaten nennen den Kampf gegen wirtschaftliche Unsicherheit als eines ihrer Topthemen. Analysiert wurden 192.186 Kommentare und Postings unter den Profilen der fünf Spitzenkandidatinnen und Kandidaten vom 6. November 2024 bis zum 31. Dezember 2024. Das Ergebnis der Auswertung: Robert Habeck (Grüne) ist der Kanzlerkandidat mit der höchsten Engagement-Rate bei Tiktok: Zum Zeitpunkt der Erhebung verzeichnete er eine extrem hohe Follower-Engagement-Rate von 51,51 Prozent. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Follower-Engagement-Rate aller Tiktok-Beiträge liegt bei 1,6 Prozent. Bei Instagram liegt die Rate bei 3,42 Prozent.
Laut Intermate gibt es auf Habecks Profilen eine abwechslungsreiche Mischung aus umweltpolitischen Themen, persönlichen Interaktionen und strategischen Inhalten. „Besonders auffällig sind die interaktiven Formate in Form von Q&As und direkten Dialogen mit der Community und mit Selfie-Videos der klare Fokus auf jüngere Zielgruppen“, heißt es in der Auswertung. Q&A nennt man ein Frage-Antwort-Format. Habecks Inhalte polarisieren, in Kommentarspalten gibt es sowohl Lob für seine nachhaltigen Visionen, als auch scharfe Kritik an steigenden Energiepreisen und wirtschaftlichen Belastungen. Besonders hinterfragt werden die Tragfähigkeit seiner Politik und seine Krisenbewältigungskompetenz. Auch Alice Weidel polarisiert mit ihren Inhalten in den sozialen Medien. Sie ist die Kanzlerkandidatin, die am häufigsten Inhalte auf Instagram oder Tiktok teilt. Mit einer Follower-Engagement-Rate von 9,96 Prozent auf Tiktok und 7,32 Prozent auf Instagram erzielt sie ein ungefähr gleich starkes Engagement auf beiden Plattformen. Die Social-Media-Strategie der AfD-Politikerin ist laut Intermate eine gezielte Kombination aus Polarisierung, persönlicher Ansprache und klarer Positionierung. Damit erreiche sie eine breite Resonanz bei ihrer Zielgruppe, bleibe aber eine umstrittene Figur im politischen Diskurs. Unter ihren Followern erntet sie Lob für ihre politischen Ansichten, auch für Persönlichkeit, Auftreten und Ausstrahlung.
21.02.2025 – TAZ: Amelie Sittenauer
Die Menschen, die an diesem Nachmittag Mitte Februar zur Berliner Tafel gehen, erkennt man an ihren Einkaufstrolleys. Mit ihnen steigen sie die wenigen Stufen zur Ausgabestelle in der Martin Luther Kirche in Neukölln herauf. Ahmet kommt gerade raus, einen Rucksack auf dem Rücken und zündet sich eine Zigarette an. Auf die Frage, was er am Sonntag wählt, blickt er kurz überrascht. Dann antwortet er schnell: „Die Grünen – wegen Ukraine“. Er überlegt nochmal kurz und sagt dann: „In Neukölln weiß ich es noch nicht, vielleicht auch SPD oder Linke“. Ahmet ist als Kind aus der Türkei gekommen, seit über 40 Jahren lebt er in Deutschland. Wie alle in diesem Text nennt er nur seinen Vornamen. Zur Zeit arbeitet er in einem 2€-Job. Weil er hier zur Tafel kommen kann, spart er sich zehn Euro die Woche. Wie er auf die Politik, auf die steigenden Preise blicke? Er zuckt die Schultern. Ist halt die Wirtschaft, meint er. Die wichtigsten Themen sind für ihn zur Zeit die Ukraine und das Klima. Wählen würde er deshalb meistens die Grünen oder SPD. Nur einmal habe er CDU gewählt, in den 90ern, aber da hatte er eine Wette verloren. Zu konservativ, zu bürgerlich, meint der Mitte-50-Jährige. Zur Martin Luther Kirche kommen Menschen wie Ahmet, die zu wenig haben, um sich Lebensmittel nur aus dem Supermarkt zu kaufen: Bürgergeld- und Grundsicherungsempfänger:innen, BAföG-Bezieher:innen oder Leute, die Wohngeld bekommen. Auch viele Geflüchtete aus der Ukraine nutzen das Angebot.
Alleine 5,7 Millionen Bürgergeld-Empfänger:innen gibt es in Deutschland, doch sie hört und sieht man wenig. Während im Bundestagswahlkampf vor allem über Migration und innere Sicherheit diskutiert wird, kommen Themen wie soziale Sicherheit und Teilhabe kaum vor. Und das, obwohl die Verbraucherpreise laut dem Statistischen Bundesamt seit 2020 um rund 20 Prozentpunkte gestiegen sind. Zum Vergleich: Eine erwachsene Person erhält 2024 und 2025 563 Euro an Bürgergeld im Monat. „Leute wie wir, die werden immer komplett am Rand bleiben“, meint Zosia. Mit so wenig Geld könne man einfach nicht am Leben teilnehmen, die Angst am Ende des Monats nicht mehr genug Geld zum Essen zu haben hinge wie ein Damoklesschwert über allem. Zusammen mit Marion, die sie bei der Tafel kennengelernt hat, wartet die 45-Jährige darauf, dass ihr Buchstabe augerufen wird. Sie selbst will die Linke wählen. Doch ob die was an der Gesamtsituation ändern kann? Alle seien gegeneinander und keiner habe eine Lösung, sagt Zosia: „Zu viele Männer, die nicht miteinander kommunizieren können“. Marion, 62, will nicht sagen, wen sie wählt. Dass irgendjemand tatsächlich Lösungen für Armutsbetroffene hat, glaubt sie aber nicht. „Sie sagen immer sie wollen die Reichensteuer erhöhen, sollen sie doch mal machen“, sagt sie angriffslustig. Sie erinnert sich noch, wie viel Überwindung es sie gekostet hatte, das erste Mal zur Tafel zu kommen, wegen der Scham. Vor allem, weil sie doch immer gearbeitet hat – als Verkäuferin, dann als Tischlerin, nur den Computerkurs fand sie schwierig. Trotzdem weiß sie, dass sie Glück hat. Sie hat ein Netzwerk, eine Tochter, die mal aushelfen können. „Andere Leute haben das nicht“.
Eine Person läuft vorbei. Bei der Frage, wen sie wählt, bleibt sie kurz stehen: „Die Linke, macht für mich als Schwarze Person am meisten Sinn.“ Sie geht weiter. Dann kommen Michi und Miriam rein. Michi arbeitet in der Behindertenwerkstatt in der Nähe, seine Mitbewohnerin Miriam hat zuletzt im Sicherheitsservice gearbeitet. Beide wissen noch nicht, ob oder wen sie wählen, nur dass es nicht in die richtige Richtung geht. Gegen Drogen und Alkohol müsse was unternommen werden, und dass es so viele Obdachlose gibt, weil die Wohnungen so teuer sind. Hermann will am Sonntag wählen gehen – die Linke. Wegen der sozialen Aspekte und weil sie kritisch seien gegen die Kriegstreiberei, wie er sagt. Die hohen Stimmenanteile für die AfD, glaubt er, sind nur ein Symptom einer Krankheit, die wesentlich tiefer reiche. Angst werde von den Rechten zur politischen Währung gemacht. „Wir müssen uns emotional und intellektuell von Angst emanzipieren“, glaubt Hermann. Sonst ist die Politik zwar weiterhin repräsentativ, aber eben nicht demokratisch.
20.02.2025 – Zeit: Jana Hensel
Nein, es gibt keine großen Parallelen zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz. Der Sozialdemokrat ist ein eher kleiner Mann, er kennt sich in den meisten politischen Sachfragen aus – wie normalerweise nur ein Fachreferent – und jenseits von TV-Duellen, bei denen es natürlich immer auch ein wenig um Besserwisserei geht, hat er erkennbar Mühe, mit den Deutschen ins Gespräch zu kommen. So übers Große und Ganze. Friedrich Merz ist da grundlegend anders: Der Konservative dürfte mit seiner Körpergröße die meisten überragen und die eine oder andere inhaltliche Unschärfe überblendet er gern mit schneidigen Ankündigungen und markigen Worten. Wenn er zum Beispiel in der ARD-Wahlarena sagte, dass er sich wünsche, dass auch seine Kinder und Enkelkinder noch in demselben Wohlstand und der gleichen Sicherheit leben können wie es bislang der Fall ist, dann ist das genau das Maß an großväterlichen Emotionen, das die meisten Deutschen sich wünschen – und das sie während der krisenreichen Ampeljahre bei Scholz vermisst haben.
In einem Punkt aber sind die beiden sich doch ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint: so wie Scholz im Jahr 2021 die Bundestagswahl mangels ernsthafter Konkurrenz gewann, so schickt sich auch Merz gerade an, am Wahlsonntag auf dem obersten Treppchen zu landen, einfach weil es gerade keinen anderen Kandidaten und keine andere Kandidatin neben ihm gibt, der oder die es ernsthaft vermag, ihm diesen Sieg noch streitig zu machen. Und weil natürlich die aktuellen Krisen einer konservativen Partei in die Hände zu spielen scheinen. Die Ampel jedenfalls vermochte sie in den Augen der allermeisten nicht zu lösen. Zwar weiß auch bei dem vermutlich nächsten Kanzler noch niemand ganz genau, wie er wirklich tickt, eines ist im Wahlkampf aber deutlich geworden: Der Mann, der für den Fall seines Wahlsiegs Führungsstärke angekündigt hat, wackelt überraschend oft und gerät ins Schlingern. Am klarsten und pointiertesten ist Merz eigentlich immer dann, wenn er sagt, was er nicht will: Die Migrationspolitik der Ampel will er nicht mehr, die Wirtschafts-, Energie und Klimapolitik auch nicht, und die Sozialpolitik hält er ebenso für stark überholungsbedürftig. Merz hat den Wahlkampf über weite Strecken eben doch als Oppositionspolitiker geführt. Die Stimmung im Land spielte ihm dabei zweifellos in die Hände. Denn allein die Abgrenzung zur Ampelpolitik reicht offenbar aus, um die Wahl zu gewinnen. Die Deutschen wünschen sich aus nachvollziehbaren Gründen eine neue Regierung, einen anderen Kanzler, ein hoffentlich weniger zerstrittenes Koalitionsbündnis.
Aber jenseits dieses Terrains wird Merz häufig schwammig, oft neblig und vor allem reichlich widersprüchlich. Bei konkreten Fragen rudert er zu oft zurück, korrigiert sich selbst und kassiert vollmundig gemachte Ankündigungen wieder ein. Je öfter das passiert, desto unschärfer wird das Bild, das man sich von ihm machen kann. Zuletzt war das gestern Abend beim TV-Duell der Welt zu erleben: Da zog Merz, ohne erkennbaren Druck, eine entscheidende Forderung aus seinem Fünf-Punkte-Plan zur Migrationswende, über den er im Bundestag Ende Januar trotz großer Kritik mit der AfD abstimmen ließ, plötzlich wieder zurück. Nämlich die, alle ausreisepflichtigen Personen in unbefristeten Gewahrsam zu nehmen, bis sie freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden. Gestern sagte er plötzlich, man könne die 40.000 Menschen "natürlich nicht alle festnehmen". Auch gestand er entgegen früheren Äußerungen auf einmal ein, dass es natürlich Länder gebe, "in die nicht sofort abgeschoben werden kann". Nur zur Erinnerung: Dass gerade die Forderung nach dem unbefristeten Gewahrsam kaum durchsetzbar sei, darauf hatten nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Sozialdemokraten und Grüne die Union während der Debatte nach dem tödlichen Messerangriff von Aschaffenburg stets hingewiesen. Merz bestand dennoch darauf, sie als Entschließungsantrag mit den Stimmen der AfD in den Bundestag einzubringen. Auch bei der wichtigen Frage, ob Deutschland der von Russland angegriffenen Ukraine den Marschflugkörper Taurus liefern soll oder nicht, blieb Merz nicht kongruent: Zunächst forderte er das vehement, nur um seine Aussage schon wenig später wieder aufzuweichen. Zur Reform der Schuldenbremse scheint er manchmal zu neigen, eigentlich aber schließt er sie kategorisch aus. Deutlich mehr Geld für Verteidigung auszugeben, hält er abstrakt für geboten, aber wie er es konkret finanzieren möchte, sagt er nicht.
Und auch woher das Geld für die umfangreichen Unternehmenssteuersenkungen kommen soll, die die Union verspricht, kann er nicht recht erklären – außer mit einem Wirtschaftswachstum, das viele Ökonomen in der von ihm angenommenen Höhe für unrealistisch erachten. Und es geht weiter: Mal scheint er mit den Grünen Koalitionsgespräche führen zu wollen und Robert Habeck für einen anständigen Politiker zu halten. Oft aber stößt er die Tür zu den Grünen, nachdem er sie an einem Tag geöffnet hat, schon am nächsten wieder zu. Nicht selten tut er das, nachdem Markus Söder aus München heftig dagegen protestiert hat. Merz scheint einerseits gern aus dem Bauch heraus und je nach Situation zu entscheiden, was aber mitunter auch zur Folge hat, dass er damit Konflikten aus dem Weg geht. All das wirkt so, als gefalle Merz sich in der Rolle desjenigen, der sagt, was sein jeweiliges Gegenüber oder die Menschen im Land gern hören wollen. Und man kann sich schon fragen: Lässt sich so tatsächlich eine Regierung führen? Vor allem dann, wenn gerade vor den Augen der Weltöffentlichkeit und in der letzten Wahlkampfwoche etwas Ungeheuerliches passiert: eine erneute, diesmal außenpolitische Zeitenwende. Donald Trump und seine amerikanische Regierung haben angekündigt, nicht länger an der Seite der Europäer zu stehen, stattdessen bewegen sie sich in der Frage, wie man den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beenden könnte, mit großen Schritten auf Wladimir Putin und Russland zu. Erste Verhandlungen in Saudi-Arabien gab es bereits, ohne dass die Europäer und die Ukraine selbst an diesen Gesprächen beteiligt wurden. Das bricht mit allem, was das transatlantische Bündnis in den vergangenen Jahrzehnten ausgezeichnet hat.
Und was macht Friedrich Merz? Er sagt zwar erneut das Richtige, weist die USA in ihre Grenzen und pocht auf die wichtige Rolle der Europäer bei möglichen Friedensverhandlungen. Allerdings ohne den Deutschen zu erklären, wie er die dafür notwendige Ausstattung des Militärs genau erreichen will. Denn dafür, und hier schließt sich der Kreis, müsste er all die im Wahlkampf bisher offen gebliebenen Fragen endlich beantworten. Und er müsste wohl, kurz vor dem Wahlsonntag, entscheidende Korrekturen seines eigenen Wahlprogramms vornehmen. Vor allem aber müsste Merz schon jetzt in Kanzlermanier sich an die Deutschen wenden und ihnen erklären, was die außenpolitischen Ereignisse der vergangenen Tage für das Land bedeuten und wie er das Land durch diese geopolitische Krise zu führen gedenkt – auch, um vielleicht noch Stimmen von kleineren Parteien wie FDP und Linkspartei zurückzuholen. Denn kommen sie über die Fünf-Prozent-Marke, wird Merz höchstwahrscheinlich erneut in einem komplizierten Dreierbündnis regieren müssen. Stattdessen schleppt Merz sich lieber mit wolkigen Äußerungen über die Ziellinie. Er öffnet damit die Tür für mögliche Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen, keine Frage. Aber sein großes Ziel, als Bundeskanzler einen grundlegenden Politikwechsel herbeizuführen, scheint schon jetzt ein kaum mehr zu erfüllendes Versprechen zu sein. Es wird wohl eher einer mit vielen Kompromissen sein.
19.02.2025 – Der Spiegel
Der Philosoph Peter Sloterdijk, 77, hadert mit seiner langjährigen Freundschaft zu FDP-Chef Christian Lindner. »Die Wahrheit ist, dass er ein schlechter Freund ist«, sagte Sloterdijk der »Zeit« . Lindner habe nie einen Rat gesucht, sich immer nur »an die elenden Experten geklammert«. Lindner habe nicht auf seinen Rat gehört, die Ampelregierung frühzeitig zu verlassen, also noch vor dem Ampelbruch im November. »Im Sommer wäre er ein Held geworden, der dieses Trauerspiel beendet hätte«, sagte Sloterdijk über Lindner: Der Schritt hätte ihn vor »einer ganzen Reihe peinlicher und falscher Auftritte bewahrt.« Lindner sei offenbar von Jasagern umgeben. »Er kriegt eigentlich Widerspruch nur von Kabarettisten und Leitartiklern«, sagte Sloterdijk: »Er ist geblieben, was er schon früher war. Ein intellektueller Selbstversorger.«
Dennoch ruft Sloterdijk zur Wahl der FDP auf. Sloterdijk sagte der »Zeit«, wer es gut mit dem Land meine, der müsse »mit zusammengebissenen Zähnen FDP wählen«. Zur Begründung sagte er: »Ein Parlament, aus dem eine Partei, deren zentrales Motiv die Freiheit ist, ganz verschwunden ist, wäre in meinen Augen keine glaubwürdige Verkörperung eines demokratischen Gemeinwesens mehr.« Den Grünen warf er eine »tiefe Kernlosigkeit« vor: »Die haben eine Pause verdient.« Bei der SPD »führt an dem Wort Todestrieb kein Weg vorbei«, sagte Sloterdijk. Und die AfD sei »ein parasitäres Unternehmen, das sich aus dem Unbehagen an der Demokratie« speise.
Sloterdijk hatte sich in der Vergangenheit deutlich von der AfD abgegrenzt, da diese wiederholt seine Nähe gesucht und ihn als Stichwortgeber für ihre Politik verstanden hatte. AfD-Rechtsaußen Björn Höcke schrieb 2018 in einem Buch, man komme nicht »um eine Politik der ›wohltemperierten Grausamkeit‹ herum«, um dem »Volkstod durch Bevölkerungsaustausch« zu entgehen. Der Begriff »wohltemperierte Grausamkeit« wurde von Sloterdijk geprägt; diese sei vonnöten, wenn ein Land »allzu attraktiv« für Flüchtlinge würde und ein Abwehrsystem aufbauen müsse , wie er 2015 in einem Interview gesagt hatte.
18.02.2025 – Sächsische Zeitung: Elias Hantzsch und Emily Bader
Delawar Qaidi ist unzufrieden. Die Preise seien aufgrund der Inflation zu hoch, Deutschland mische sich zu viel in internationale Krisen ein und kümmere sich zu wenig um Probleme vor Ort. „Außerdem sollten die Reichen mehr Steuern zahlen“, findet der 15-Jährige aus Hannover. Bei der U18-Bundestagswahl konnte er trotz seines Alters seinem Frust eine Stimme verleihen. Eine Altersgrenze nach unten gibt es bei dieser Wahl nicht. Teilnehmen dürfen alle Jugendlichen unter 18 Jahren. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 war Qaidi einer von insgesamt 166.443 Minderjährigen, die in insgesamt 1812 selbstorganisierten Wahllokalen abgestimmt haben. So erzählt er es der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ), Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Auch Pelin Berk (16) hat an der Wahl teilgenommen. Ihr bereitet der Rechtsrucks die größten Sorgen. Sie redet sich regelrecht in Rage, bezeichnet AfD und CDU als „blöd“ und „ekelhaft“. „Ich habe Angst, dass die Hitler-Zeit zurückkommt“, sagt die 16-Jährige mit türkischen Wurzeln. Mit ihrer politischen Haltung sehen sich Pelin und Delawar in ihrem Umfeld eher als Ausnahme. „Viele beschäftigen sich gar nicht mit Politik“, sagt Delawar.
Was wäre, wenn Kinder und Jugendliche die neue deutsche Regierung wählen würden? Am besten schnitt bei den Kindern und Jugendlichen die Partei Die Linke ab, mit 20,8 Prozent der Stimmen. An zweiter Stelle folgte die SPD mit 17,9 Prozent. Danach kamen CDU/CSU mit 15,7 Prozent, die AfD mit 15,5 Prozent und dann die Grünen mit 12,5 Prozent. Natürlich sei die Wahl nicht repräsentativ, ordnet der Soziologe und Jugendforscher Klaus Hurrelmann ein. „Aber es ist ein Stimmungsbild, das es in sich hat“, schiebt der Professor nach. Die Ergebnisse bestätigten, dass sich „die jungen Leute sehr viel stärker als alle diejenigen, die schon ein Wahlrecht haben, von inhaltlichen Themen beeinflussen lassen.“ Die Linke habe im Wahlkampf sehr intensiv auf die Themen der wirtschaftlichen Sicherheit, der finanziellen Absicherung in der Gegenwart und in der Zukunft gesetzt. „Aus Jugendstudien bei den unter 18-Jährigen wissen wir, dass junge Leute diese Themen zurzeit sehr stark beschäftigen“, erklärt der Jugendexperte. Hurrelmann ist selbst Mitautor der Trendstudie „Jugend in Deutschland“, die seit 2020 in regelmäßigen Abständen wiederholt wird.
Auch sei laut Hurrelmann zu beobachten, auf welche Art und Weise sich Parteien an die jungen Wähler und Wählerinnen richten: „Sie fühlen sich erst richtig angesprochen, wenn sie das Gefühl haben, dass sich eine Partei um ihre Themen kümmert und wenn das auch auf dem geeigneten Kommunikationskanal passiert.“ AfD und Linke hätten das am besten verstanden. Die Linke hätte es sich quasi von der Rechtsaußenpartei abgeguckt. „Die jungen Leute sind überhaupt nicht festgelegt. Sie sind nur zu ganz geringem Anteil ideologisch gewickelt“, sagt Hurrelmann im Hinblick auf hohe Zustimmungswerte der CDU/CSU und der AfD vor einem Jahr. „Das war eindeutig die Reaktion einer Enttäuschung gegenüber der drei Regierungsparteien“, so der Soziologe. Das Wahlergebnis der U18-Wahl zeigt deutliche Unterschiede zu aktuellen Umfragen unter Erwachsenen. Dort liegt derzeit Die Linke ein ganzes Stück hinter den anderen genannten Parteien. Die Union liegt dagegen vorne.
16.02.2025 – Zeit
In Berlin haben Zehntausende Menschen gegen die AfD und die "Normalisierung rechter Positionen" protestiert. Die Berliner Polizei meldete rund 30.000 Demonstrierende, die Organisatoren zählten 38.000 Menschen, die "für Demokratie und Zusammenhalt zusammen" auf die Straße gegangen seien. Das Bündnis Gemeinsam Hand in Hand hatte zur Demonstration aufgerufen. Unter anderem Herbert Grönemeyer und Die-Ärzte-Schlagzeuger Bela B. traten bei der Kundgebung auf. Grönemeyer sprach sich in einer Rede für ein weltoffenes und einwanderungsfreundliches Deutschland aus. "Macht euer Kreuz bei einer demokratischen Partei", forderte er die Demonstranten auf. "Für uns alle ist es fünf vor zwölf", sagte Grönemeyer. "Unsere Demokratie wird heftig angegriffen." Die Initiatoren kritisieren die "Normalisierung rechter Politiken und Diskurse" und das "Erstarken der extremen Rechten in Deutschland und Europa". Redebeiträge auf der Kundgebung richteten sich gegen die in Teilen rechtsextreme AfD, sowie gegen die Union und ihren Kanzlerkandidaten Friedrich Merz.
In den vergangenen Wochen hatten deutschlandweit immer wieder Tausende Menschen gegen einen politischen Rechtsruck demonstriert. Die Protestwelle hatte im Januar mit der Abstimmung im Bundestag zur Migrationspolitik begonnen. Merz hatte dabei in Kauf genommen, Anträge für deutliche Verschärfungen auch mit Stimmen der AfD zu verabschieden. Auf die Umfragewerte der Union vor der Bundestagswahl wirkte sich dies aber nicht spürbar aus. Bereits am Samstag hatte es in mehreren Städten Demonstrationen gegen rechts gegeben. In Frankfurt am Main versammelten sich laut Hessischem Rundfunk 15.000 Menschen. Ihre Kundgebung stand unter dem Motto "Wähl' Liebe und Demokratie, statt Hass und Diskriminierung". Sie war Teil einer bundesweiten Kampagne der Christopher-Street-Day-Bewegung (CSD), die in 50 Städten zu Demos aufgerufen hatte. Bei einer ähnlichen Veranstaltung in Mainz mit dem Motto "Es ist 5 vor 12 – Wähl Liebe" gingen 5.000 Teilnehmer auf die Straße. Protestaktionen gab es auch in Berlin, Bayern, Hamburg und Baden-Württemberg.
14.02.2025 – TAZ: Franziska Schindler
Die Schlange steht die gesamte Schaufensterlänge der Tommy-Hilfiger-Boutique in der Würzburger Innenstadt entlang. An ihrem Ende lächelt Heidi Reichinnek, Spitzenkandidatin der Linken für die anstehende Bundestagswahl, vor dem Wahlkampfstand in Handykameras. Ihre Fans, fast allesamt Gen Z, drücken einem Mitarbeiter Reichinneks ihre Smartphones in die Hand. Die Jugendlichen umfassen ihre Taille, um gemeinsam zu posieren. Reichinnek mit hochgerecktem Daumen, Reichinnek mit selbstgebastelter Legoblume, die sie gerade eben geschenkt bekommen hat. „Die sieht echt so aus wie auf Tiktok“, sagt eine junge Frau, „Voll cool, dass sie nicht so viele Filter benutzt.“ Jana M., 21 Jahre alt, Lehramtsstudentin, steht schon ziemlich weit vorn in der Schlange. „Heidi war unter den Top drei meiner Celebrity Crushes im letzten Jahr“, erklärt sie ihren Freund*innen. Die vier schwänzen gerade eine Vorlesung in Erziehungswissenschaft, um mit Reichinnek ein Selfie zu machen. Auf Tiktok hat die 36-Jährige mit den vielen Tattoos mittlerweile mehr als 500.000 Follower, über 300.000 mehr als Olaf Scholz. „Heidi for Bundeskanzlerin“, steht in den Kommentaren, oder „Meine Löwin“.
2021 ist Reichinnek über die niedersächsische Landesliste in den Bundestag eingezogen. Im November 2024 wurde sie mit Jan van Aken zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl gekürt. Nun soll sie nicht nur die jungen Erwachsenen aus Gen Z begeistern, sondern die Partei zum Wiedereinzug in den Bundestag führen. Als Friedrich Merz im Bundestag die Brandmauer zu Fall brachte, ging Reichinnek mit ihrer wutentbrannten Rede viral und erreichte weit mehr Menschen als die übliche Linken-Wählerschaft. In Umfragen kam die Linke Ende Januar erstmals seit Herbst 2023 wieder bundesweit auf 5 Prozent, die Forschungsgruppe Wahlen sieht sie inzwischen bei 7. Ob die Partei am 23. Februar wirklich die Sperrklausel überwindet oder drei Direktmandate gewinnt, die auch für den Wiedereinzug ins Parlament reichen würden, bleibt ungewiss. Aber es sieht gut aus.
Und Reichinnek schafft einiges. Nach ihrem Eintritt in die Linke 2015 steigt sie schnell auf. 2016 wird sie Stadträtin in Osnabrück, kurz darauf Landessprecherin der Linksjugend, 2019 Parteivorsitzende in Niedersachsen. 2021 folgt der Einzug in den Bundestag. Reichinnek beginnt, auf Tiktok und Instagram über ihre Arbeit im Parlament zu informieren. Es geht um ihren Fachbereich, also Kinder-, Jugend-, Frauen- und Familienpolitik, aber auch um Rente, Friedrich Merz und die AfD. Sich selbst bezeichnet sie als Feministin, Sozialistin und Antifaschistin. Studiert hat Reichinnek Nahoststudien und Politikwissenschaft, zudem in der Jugendhilfe und mit minderjährigen Geflüchteten gearbeitet. Reichinnek ist ambitioniert. 2022 hatte sie schon einmal für den Parteivorsitz kandidiert, gestützt vom damaligen Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und auch von Sahra Wagenknecht. Sie unterlag der amtierenden Vorsitzenden Janine Wissler. Rund anderthalb Jahre später trat sie im Februar 2024 erneut an, diesmal für den Gruppenvorsitz, nachdem die Linkspartei durch Wagenknechts Weggang den Fraktionsstatus verloren hatte. Heute bezeichnet Reichinnek das BSW in ihren Reden gern als „outgesourcten Personenkult.“ Diese Wahl gewann sie. Zuvor hatte Reichinnek sich schon über die Fraktion hinaus einen Namen gemacht, vor allem wegen ihrer Präsenz auf Social Media. Bei vielen älteren Parteimitgliedern in Ostdeutschland kommt ihr zugute, dass sie in Merseburg geboren und im sachsen-anhaltinischen Obhausen aufgewachsen ist – eine von ihnen. Freitag vor Weihnachten, in Reichinneks Bundestagsbüro steht Stollen auf dem Tisch. „Hier ist in den letzten Wochen richtig gute Laune“, sagt Reichinnek. „Ich weiß gar nicht, wohin mit meiner ganzen Energie.“ Wie sie damit klarkommt, dass das Schicksal der Linkspartei auf ihren Schultern liegt? „Wir gewinnen zusammen, und wir verlieren zusammen“, sagt Reichinnek, „nicht ich als Einzelperson. Ich reiße es hier nicht alleine, und ich versaue es hier auch nicht alleine.“ Klar, die Wahl zum Gruppenvorsitz hätte anders laufen können, findet sie. Aber man sei darüber hinweggekommen, die Gruppe habe sich zusammengerauft.
Genau genommen war die Wahl zum Gruppenvorsitz eine Katastrophe. Ein neues Zeichen der Geschlossenheit hätte von ihr ausgehen sollen. Stattdessen gewannen Reichinnek und Sören Pellmann in zwei Kampfabstimmungen mit 14 zu 13 Stimmen gegen Clara Bünger. Ates Gürpinar, der sich auch beworben hatte, zog im Laufe des Verfahrens zurück. Bünger und Gürpinar wurden von den damaligen Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan unterstützt, Reichinnek und Pellmann von Ex-Fraktionschef Bartsch. Das Signal der Wahl: Auch ohne Wagenknecht zerstreitet sich die Linke in Grund und Boden. Parteitag in Halle an der Saale im Herbst 2024. „Wir gehen auf ein Wahljahr zu, an dessen Ende wir es entweder grandios in den Sand gesetzt haben, oder eines, an dessen Ende wir sagen können, dass wir es geschafft haben, das Ruder rumzureißen“, ruft Reichinnek den Mitgliedern zu. In Halle wählt die Partei ihre neue Führung: Jan van Aken und Ines Schwerdtner übernehmen. Ihr erklärtes Ziel: Sie wollen die alten Streitereien hinter sich lassen. Wenige Wochen später ist die Ampel passé, Reichinnek wird zusammen mit van Aken zum Spitzenduo für den Bundestagswahlkampf gekürt. Die Aufgaben sind klar verteilt: Van Aken übernimmt die Talkshows, Reichinnek ist für Social Media zuständig. Auch mit hunderttausenden Haustürgesprächen will die Linke neue Wähler*innen gewinnen, allein in Berlin hat sie bis Anfang Februar an über 130.000 Türen geklopft. „Persönliche Begegnungen an Haustüren und Ständen als erster Kontakt sind wichtig“, sagt Benjamin Höhne, Parteienforscher an der TU Chemnitz. Leute aus prekären sozialen Schichten erreiche die Linke momentan kaum, obwohl sie genau deren Themen bearbeite. Auch in der Mittelschicht finde sie mit ihrem Politikangebot nur wenig Resonanz, obwohl diese in Großstädten ein großes Problem mit steigenden Mieten habe. Um potenzielle Wähler*innen stärker an die Partei zu binden, bleibt kaum noch Zeit. Reichinnek tingelt durchs Land, zu Infoständen, Bürgerzentren, Betriebsräten. Nach Hamburg, wo 1.500 Menschen sie am vergangenen Dienstag erwarteten. Nach Mannheim, Köln, Duisburg, Bamberg – und Bocholt. Die meisten, die dort vor dem historischen Rathaus auf ihre Ankunft warten, wählen dieses Jahr zum ersten Mal den Bundestag mit. Viele gehen noch zur Schule. Sie haben für Reichinnek Freundschaftsarmbänder geknüpft – „Fuck the Patriarchy“ und „Female Rage“ kann man auf den Perlen lesen – und eine Puppe für sie gehäkelt. „Heidi hat ja noch Röhrenjeans an“, beobachtet einer in modischer Schlaghose, „aber sie kann das tragen.“ Sie erzählen Reichinnek von ihren Problemen, etwa von Eltern, die AfD wählen.
Die Zeit, die Reichinnek am Infostand verbringt, wird sie von den vielen neuen Parteimitgliedern in Anspruch genommen und von denen, die sie ohnehin schon wählen. Auf den jungen Menschen liege jetzt ihr Fokus, sagt Reichinnek. Vor allem bei jungen, progressiven Erwachsenen ist die Politikerin zur Identifikationsfigur geworden. Dank Reichinnek kann die Linke mithalten in der Personalisierung des Wahlkampfs, die andere Parteien vormachen. „Sie ist der absolute Glücksfall für unsere Partei“, sagt der 47-jährige Linken-Bundestagsabgeordnete Jan Korte. „Erst dachte ich, dass sie nur die Tiktok-Community adressiert. Aber sie füllt auch die Hallen.“ Ein kalter Januartag, Neujahrsempfang der Linken in einem Nürnberger Kino. Die Veranstaltung beginnt verspätet, weil der Saal überfüllt ist. Mehrere hundert Menschen sind vor allem wegen Reichinnek gekommen, so erklärt sich der Nürnberger Ortsverband den Ansturm. „Entschuldigung, ich hab den Faden verloren, ich bin so nervös bei so vielen Leuten“, sagt eine überwältigte Kreisrätin, und findet dann doch zurück in ihr Redemanuskript. Das Publikum, im Durchschnitt wohl nicht älter als 25 Jahre, klatscht und jubelt. Eine fränkische Pop-Band zupft auf Gitarren, dann ist Reichinnek an der Reihe. Sie spricht über Kinderarmut, hohe Mieten und den Rechtsruck. „Guckt euch um in diesem Kinosaal“, sagt Reichinnek. „Wir sind noch immer die Mehrheit in diesem Land.“ Der Applaus klingt dann eher nach Popkonzert als nach einer Rede über ein Wahlprogramm. Reichinnek verneigt sich. „Heidi, Heidi, Heidi“, rufen Besucher*innen. Viele stehen auf. Der Applaus endet noch immer nicht. Reichinnek wischt sich die Augen. Das Publikum klatscht weiter. „Freunde, ihr macht Heidi verlegen, nochmal richtig“, ruft Direktkandidat Titus Schüller in den Saal und überreicht Reichinnek eine Weinflasche. „Du bist so rot, dass du einen weißen bekommst“ – „politisch rot“, versucht er sich zu korrigieren.
10.02.2025 – Der Spiegel
Bundeskanzler Olaf Scholz und CDU-Chef Friedrich Merz lieferten sich am Sonntag ein TV-Duell. Nun stellten sich AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel und Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck im ZDF kritischen Fragen – allerdings getrennt voneinander. Während Weidel noch mal bekräftigte, sie sei bereit für eine Zusammenarbeit mit der Union, dringt Habeck auf eine klare Abgrenzung von der AfD. »Es ist falsch, dem Populismus hinterherzukläffen und hinterherzubellen und hinterherzulaufen«, sagte der Grünenkandidat in der ZDF-Sendung »Was nun, Herr Habeck?«. Er warf in diesem Zusammenhang CSU-Chef Markus Söder und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) vor, ihre Strategie habe »nicht dazu geführt, die AfD kleinzuhalten«.Als Gegenbeispiel nannte Habeck CDU-Ministerpräsident Daniel Günther in Schleswig-Holstein. Dort sei es »mit einer anderen politischen Kultur« bisher gelungen, die AfD sogar aus dem Landtag herauszuhalten. Habeck kritisierte auch erneut das gemeinsame Votum von Union, FDP und AfD im Bundestag zur Migrationspolitik.
Mit den von der Union dabei vorgelegten Vorschlägen etwa für Grenzschließungen werde zudem europäische Solidarität infrage gestellt, auf die Deutschland bei anderen Punkten angewiesen sei, sagte Habeck. Er verwies dabei auf die von US-Präsident Donald Trump angedrohten Strafzölle, die Deutschland als Exportnation besonders treffen würden. In der Migrationsdebatte forderte er, sich mehr um die Integration der hier lebenden Menschen in den Arbeitsmarkt zu kümmern. Mit dem bisherigen Verlauf des Wahlkampfes zeigte sich Habeck zufrieden. Die Grünen hätten sich immerhin bisher wieder auf 15 Prozent hochgearbeitet, was etwa ihrem Bundestagswahlergebnis von 2021 entspreche. »Das haben die anderen Ampelparteien noch nicht erreicht«, sagte der Grünenpolitiker. Habeck betonte, er strebe weiterhin die Kanzlerschaft an: »Wir müssen auch gewinnen wollen, das mache ich.«
Bei AfD-Chefin Alice Weidel hieß es derweil: »Was nun, Frau Weidel?« Die Spitzenkandidatin bekräftigte ihre Bereitschaft zu einer Koalition mit der Union, die ihrerseits eine gemeinsame Regierung aber ausschließt. »Meine Hand ist ausgestreckt. Man kann in Verhandlungen eintreten«, sagte Weidel: »Ja, auch gern als Juniorpartner«. Sie kritisierte, dass sich die Union mit der sogenannten Brandmauer in Koalitionen mit linken Parteien einzementiere. »Ich glaube, dass Friedrich Merz nicht mehr davon runtergeht und das ganz zum Schaden unseres Landes, weil dadurch keine politische Wende möglich sein wird«, sagte sie. Weidel bezeichnete es als wünschenswert, 25 Prozent der Bundestagssitze zu erringen. Dann könnte die AfD im Parlament ohne Mithilfe anderer Parteien Untersuchungsausschüsse einsetzen – dafür ist ein Viertel der Abgeordneten nötig. Weidel nannte etwa einen Corona-Untersuchungsausschuss oder einen Untersuchungsausschuss zum Thema Sprengung der Nord-Stream-Gasleitungen in der Ostsee. Zu den Wahlaussichten ihrer Partei bei der Bundestagswahl in knapp zwei Wochen sagte Weidel: »Ich glaube, wir werden ein sehr, sehr gutes Ergebnis einfahren.« Konkrete Prognosen wollte sie nicht machen, nannte aber 20 Prozent ein sehr gutes Ergebnis. In den Umfragen liegt die AfD aktuell in diesem Bereich. Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die Partei 10,4 Prozent erreicht.
09.02.2025 – TAZ
Gott, ausgerechnet, scheint Demokrat zu sein. Oder ist es Petrus? Jedenfalls ist der Diensthabende hier am Samstagnachmittag auf der Münchner Theresienwiese auf der Seite der Demonstranten: Es ist strahlender Sonnenschein, ein verfrühter Frühlingstag. Nur ein paar ältere Damen tragen trotz des herrlichen Wetters Regenschirme. »Omas gegen Rechts« steht darauf. Tausende und Abertausende sind gekommen, um gegen Rechts ihre Stimme zu erheben, gegen Hass, gegen Hetze und gegen die, die den Rechtsextremen ihrer Meinung nach die Hand reichen, wenn nicht gar den Steigbügel. Am Fuße der Bavaria, einer Art Münchner Freiheitsstatue, knapp 20 Meter hoher in Bronze gegossener Patriotismus, haben sie die Bühne aufgebaut. Gerade steht dort Robert Misik, Wiener, Journalist, taz-Autor. Er berichtet von seinem Land, einem Land, in dem sich ein Herbert Kickl, der Chef der rechtsextremen FPÖ, anschickt, die Macht zu übernehmen. »Es ist etwa so«, sagt Misik, »als würde Björn Höcke bei Ihnen Bundeskanzler werden.« Und er fragt, als sei es für Deutschland noch nicht zu spät, aus dem Schicksal des Nachbarlands zu lernen. »Aber wie kommt ein Land an so einen Abgrund?« Seine Antwort: »Allmählich, und dann plötzlich.« Dreißig Jahre lang sei in Österreich das Klima vergiftet worden, die Sprache. Am Ende sei dann jeder Migrant als Krimineller hingestellt worden, jeder Flüchtling als Messerstecher. Schleichend sei die Vergiftung des Klimas geschehen, in kleinen Dosen – »dann rasant, eine Rutschpartie ins Fiasko.« Erst sei es ein Tabubruch gewesen, dann langsam zur gewohnten Übung geworden. »Es ist, das ist die Lehre aus meinem Land, so unschätzbar wichtig, dass Sie genau jetzt, genau bei den ersten Versuchen, den ersten Tabubrüchen, schon aufstehen und sagen: Halt, stopp, hier geht’s steil bergab, da lauert der Abgrund!«
Die Menschen haben Schilder mitgebracht. »Wer schweigt, stimmt zu. Nie wieder«, steht auf den Pappen und: »Sie haben Hass, wir haben Haltung«. Oder auch: »Sometimes RIGHT is just WRONG«. Besonders beliebt sind »Menschenrechte statt rechte Menschen«, »EkelhAFD« oder schlicht »Auf keinen Fall, Digga«. Frauen, Männer jeglichen Alters, auch einige Kinder sind da. Es wehen Europafahnen, Friedensfahnen, Regenbogenfahnen im leichten Wind, auch die Königlich Bayerischen Antifaschisten schwenken ihre Fahne. Einer hat einen Grabstein mitgebracht. »Brandmauer« steht darauf. Und das Todesdatum: »29.1.25«. Ira B und die Dystopianer singen von der braunen Raupe Nimmersatt, die junge, in München aufgewachsene Jüdin Joëlle Lewitan erzählt von ihren Großeltern, die den Holocaust überlebt haben und sich trotzdem dafür entschieden haben, in diesem Land, im Land der Täter zu bleiben, die an die Kraft der Demokratie geglaubt haben. Und sie erzählt davon, was wir ihnen schuldig sind. »Ich stehe heute hier, laut und wütend«, sagt sie. Und ganz bestimmt ließen sich die Juden in Deutschland nicht für rechte Hetze instrumentalisieren. Der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gehöre immer zusammen. Wer gemeinsame Sache mit der AfD mache, sagt sie dann an die Adresse der Union, »der gedenkt nicht unserer Vorfahren, der verrät sie.« Vereinzelt schweben Seifenblasen über den Köpfen, auch Luftballons und eine Drohne. Alle sind sie da, in ihrer schönsten Vielfalt. Menschen, die wenig eint, aber doch das Wesentliche. Hans Well, zählt sie auf: »De Aufbretzltn und de Gschlampatn, de Zaundürrn und de Gwampatn, de Radlfahrer und de Porschefahrer, de evangelischn und de echtn Pfarrer, de Weiba und de Manna, de Metzger und de Vegana, de Tramhappatn und de Wutzla, de Freibierlätschn und de Noagalzutzla.« Und, und, und … Und ob die Zuagroasten jetzt wissen, was ein Tramhappata ist, oder ein Noagalzutzla – es ist egal, Hauptsache, sie sind auch da. Es ist ein altes Lied der legendären Biermösl Blosn, deren Texter Hans Well war; er hat es recycelt und für den Anlass adaptiert. Heute ist er mit seiner neuen Combo, den Wellbappn, gekommen. Eine Portion deftigen Sarkasmus hat er auch dabei. Von Höcke, der sich an die Macht geputscht hat, singt er in einem weiteren Lied: »Kameraden jetz wird aufgrammt, auf zur Remigration! Afrikaner, Mongolen, Österreicher, raus zur Massendeportation! Für Veganer gibt’s verschärfte Festungshaft, oane werd glei gschnappt, de Sarah Wiener hom’s beim Brokoli Essn, auf frischer Tat ertappt.«
Dann wird Hans Well von einer der Veranstalterinnen unterbrochen. Sie gibt das Ergebnis einer Zählung bekannt. Über 320.000 Menschen seien gekommen, Applaus brandet auf. Ursprünglich sollte die Demonstration im Univiertel stattfinden. Doch dann kamen schon Zweifel, ob der Platz reicht, und man hat sie schnell noch verlegt. »Das sind dreimal so viel wie in Wackersdorf«, sagt Well, der damals beim Protest gegen die WAA schon auf der Bühne stand. »Respekt!« Ein Mann in Uniform kommt vorbei, er trägt ein Hitlerbärtchen. Und ein Schild, auf dem steht: »Alice Weidel lügt: Ich bin kein Kommunist. Mief heil!« Später werden die Menschen noch einmal wie Erbsen gezählt, es seien nur 250.000 gewesen, sagt die Polizei. Was immer noch mehr sind als die erwarteten 75.000. Aufgerufen hatten zu der Großdemo die unterschiedlichsten Einrichtungen und Vereine – von den Kirchen bis zum FC Bayern. Auch viele Parteien zeigten Flagge und Gesicht. Der Chef der Münchner CSU, der bayerische Justizminister Georg Eisenreich, dagegen wollte ausdrücklich nicht kommen. Der Grund: Es sei zu erwarten, dass wegen ihrer Asylpolitik Stimmung gegen die Union gemacht werde. Eine nicht ganz aus der Luft gegriffene Annahme. Auf vielen Schildern steht: »Kein Merz im Februar«. Die Redebeiträge sind entsprechend. Zu groß scheint bei den meisten hier die Furcht vor dem, was aus einem ersten Tabubruch entstehen könnte. Deshalb sind sie hier. Oder wie es Joëlle Lewitan sagt: »Wir brauchen die Demokratie, und in diesen Tagen braucht sie auch uns.«
8. Februar – Sächsische Zeitung
Die Zeitenwende macht es möglich, dass die Rolle des Militärs im Osten Sachsens wächst. Zu dem schon länger bestehenden Truppenübungsplatz Oberlausitz bei Weißwasser ist noch die Stationierung eines Logistikbataillons mit 700 Soldaten zwischen Kamenz und Hoyerswerda vorgesehen. Und seit Mittwoch ist klar: Ab 2026 werden im Görlitzer Waggonbau, der für Doppelstockzüge stand und auf eine 175-jährige Tradition zurückschauen kann, Teile für Panzer gefertigt. Das deutsch-französische Rüstungsunternehmen KNDS übernimmt den Alstom-Standort. Aus diesem Anlass kam sogar Bundeskanzler Olaf Scholz nach Görlitz, das einzige Mal in seiner Amtszeit. Bislang war seine Zeitenwende für viele nur ein abstrakter Begriff. Mehr Geld für die Bundeswehr und im Bundeshaushalt, ja. Aber was hat das mit der Lebenswirklichkeit vor Ort zu tun? Als nun am Mittwoch erstmals Panzer im Waggonbau Görlitz standen, war das mit der Erkenntnis verbunden, die Zeitenwende ist jetzt in Sachsen angekommen. Und sie wird dieses Land auch dann noch prägen, wenn der Ukraine-Krieg hoffentlich bald zu Ende ist.
Wie immer bei solchen Ereignissen gibt es auch Kritik. Zum Beispiel daran, dass in Deutschland Bahntechnik-Hersteller Werke schließen, obwohl doch alle davon reden, dass mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene wechseln müsste. Doch die großen Konzerne wie Alstom, Siemens oder früher eben Bombardier sind internationale Akteure, die auf lokale Standortinteressen nur bedingt Rücksicht nehmen können und wollen. Viel größer ist das Unbehagen allerdings daran, dass die Bahntechnik jetzt moderner Wehrtechnik weichen muss. Die Aufrüstung ist vielen ein Dorn im Auge. Auch wenn in Görlitz der große Aufstand ausfiel, sollte der Protest nicht unterschätzt und das Unbehagen nicht kleingeredet werden. Wie es schon bei den Protesten gegen den Militärflughafen Großenhain und die Produktion von Munition in sächsischen Gießereien zum Ausdruck kam.
Wer sich die Mühe macht, sich jenseits ideologischer Parolen genauer auf die Friedensbewegung im Osten einzulassen, der wird sehen, dass sie sich aus vielen Quellen speist. Ostdeutsche und westdeutsche, pazifistische und antiamerikanische, putinfreundliche und naive. Deshalb wirkt sie so wie ein buntes Häufchen. Das aber war sie schon immer. Vor allem aber treibt viele sehr persönliche Motive an, die für ihr Leben einen besonderen Wert haben. Darunter sind Menschen, die zu den Mitbegründern der Grünen gehörten, auf der großen Demonstration im Bonner Hofgarten 1981 gegen den Nato-Doppelbeschluss dabei waren, jetzt aber aus Enttäuschung zum BSW gewechselt sind. Dass die Geschichte eher denen recht gab, die Aufrüstung mit Aufrüstung beantworten wollten, passt bis heute weniger in ihr Weltbild. Oder es sind Menschen, deren Großeltern fürchterliches Elend und Tod, Flucht und Vertreibung erlebt haben und für die das Bekenntnis „Nie wieder“ dadurch einen eigenen Stellenwert erhalten hat, der das Weiterleben erst ermöglichte. Es gibt auch Russland-Freunde, die trotz oder durch die verordnete Freundschaft zu DDR-Zeiten persönliche Beziehungen zu Menschen in der damaligen Sowjetunion geknüpft haben. Die bis heute halten und von denen sie sich jetzt nicht einfach so trennen wollen, weil es nicht mehr opportun ist. Dass bis 1989 die meisten Menschen in der DDR ungeachtet der offiziellen Propaganda ein negatives Bild von der Sowjetunion hatten, gehört aber auch zur Wahrheit. Andere wiederum gehen beispielsweise in Bautzen einmal in der Woche auf die Straße, singen Lieder aus der Ohnmacht heraus, irgendetwas tun zu müssen. Und schließlich machen sich gar nicht so wenige Mütter Sorgen, was aus ihren Söhnen wird, wenn die Wehrpflicht wieder eingeführt wird.
Die Zeitenwende stellt viele Gewissheiten der vergangenen 30 Jahre infrage und sie berührt existenzielle Fragen. Das wahrzunehmen, ist umso wichtiger, wenn man selbst zu anderen Erkenntnissen gekommen ist. Diese Gruppe gibt es eben auch, auch wenn sie eher im Westen als im Osten vertreten ist, eher bei jüngeren als älteren Menschen. Aber nach allen Meinungsumfragen ist sie in der Mehrheit. Ein junger grüner Kommunalpolitiker aus der Oberlausitz erklärte vor einiger Zeit gegenüber Journalisten, für ihn habe Frieden mit Freiheit zu tun; ein Wort, das die Debattengegner in diesem Zusammenhang kaum verwenden. Das eine sei ohne das andere nichts wert. Die Sehnsucht nach einem Leben im Frieden eint beide Seiten der Debatte. Uneins sind sie über den richtigen Weg. Dass es diese Diskussion gibt, ist ein gutes Zeichen für die so häufig abfällig beschriebene Demokratie. Gerade den Deutschen steht sie nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser zu Gesicht als eine unreflektierte Hurra-Begeisterung.
Am Ende muss aber das Notwendige getan werden, um den Frieden zu schützen. Und da ist Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, immer noch einer der beliebtesten Politiker im Land, nur schwer zu widersprechen, wenn er sagt, dass »wir unsere Freiheit und Menschen, die wir lieben, nicht mit Gebeten oder Sitzblockaden verteidigen können∂«. Sondern eben auch mit Wehrtechnik aus Görlitz. Das gefällt nicht allen. Das können viele nur schwer aushalten. Das ist menschlich und verständlich. Aber Demokratie kann nicht jedem gerecht werden und bleibt unvollkommen. Sanssouci – also »ohne Sorgen“ – steht eben nur an der Fassade des Sommerschlosses von Friedrich dem Großen in Potsdam.
7. Februar – FAZ
Das bürgerliche Lager hat in diesem Wahlkampf sichtlich Mühe, seiner Wählerschaft die Aussicht auf eine parlamentarische Mehrheit zu geben. Zwar hat Merz eine Minderheitsregierung ausgeschlossen, aber er gibt sich alle Mühe, die Brücken zu möglichen Koalitionspartnern abzubrechen. Das AfD-Abenteuer im Bundestag dürfte besonders Söder gefallen haben, weil es Schwarz-Grün einen Riegel vorgeschoben hat. Nun hat Merz aber auch die FDP vor die Tür gesetzt – ohne Not, denn dass die CDU keinen Leihstimmenwahlkampf führen will, war lange klar. Was aber macht Merz, wenn es selbst mit der SPD nicht reichen sollte? Und woher nimmt er die Gewissheit, dass die vier, fünf Prozent der Stimmen, die der FDP in Umfragen vorhergesagt werden, allesamt potentielle CDU/CSU-Stimmen sind?
Die Unionsparteien so stark wie möglich zu machen, wird nicht helfen, am Tag nach der Wahl das Versprechen einzulösen, das Wahlprogramm eins zu eins in die Tat umzusetzen. Merz wird Partner, also Kompromisse brauchen. Sich von der FDP zu lösen, bedeutet größere Zugeständnisse an SPD oder Grüne. Lindner wirft Merz deshalb Opportunismus vor, weil er nur an das Kanzleramt denke. Ein kurioses Argument gegen einen Kanzlerkandidaten. Es sei denn, es zielt auf die Vermutung, dass Merz ins Kalkül zielt, bis Ostern zu keiner Einigung zu kommen. Dann bleibt ihm nur, sich von einem anderen Versprechen zu trennen: Er wolle keine Minderheitsregierung.
6. Februar – Zeit
Eine Frau verlässt Berlin. Ihr politisches Leben ist zu Ende, doch sie wirkt mit sich im Reinen, wenn auch deprimiert. Joana Cotar saß sieben Jahre lang für die AfD im Bundestag, 2021 wollte sie Spitzenkandidatin werden. Aber sie unterlag Alice Weidel und trat ein Jahr später aus der Partei aus. »Liberal ist in der AfD ein Schimpfwort geworden«, sagt sie. »Wir waren nur noch die 'Liberalalas'.« Seither ist sie politisch heimatlos. Was wenige wissen: Cotar versuchte 2023 eine neue libertäre und konservative Partei aufzubauen. Anfang 2024 schien sie am Ziel, der klassizistische Siemenssaal im Mövenpick-Hotel am Anhalter Bahnhof in Berlin war schon für eine Pressekonferenz gebucht. Hans-Georg Maaßen, der frühere Verfassungsschutzchef, gehörte zum inneren Kreis, noch bevor ihn seine alte Behörde als Extremisten einstufte. Maaßen klagt dagegen. Der libertäre und durch apokalyptische Visionen und Reden vom »Zusammenbruch dieses Systems« auffällige Markus Krall wollte mitwirken. Auch der frühere AfD-Chef Jörg Meuthen kannte die Pläne. »2023 waren sich alle einig, dass wir die Repräsentationslücke nur gemeinsam schließen können«, sagt Cotar. Ihre neue Partei wollte alle an sich binden, denen die CDU unter Friedrich Merz wirtschaftspolitisch zu weich, denen die FDP zu schwach und die AfD zu rechtsextrem ist – darunter viele Unternehmer. Um diese politisch heimatlosen Wähler geht es in dieser Recherche.
In Deutschland gibt es etwa vier Millionen mittelständische Unternehmer, Selbständige und leitende Manager. Christoph Ahlhaus kennt dieses Milieu gut. Ahlhaus war Hamburger Bürgermeister, gehört dem konservativen Flügel in der CDU an und leitet den Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMW), das politische Sprachrohr der deutschen Weltmarktführer: »Wenn wir in unserem Verband interne Umfragen machen, wird der Frust der Unternehmer deutlich, die sich von der Union zurückgezogen und der AfD zugewandt haben. Fragen wir weiter nach, dann lehnen die meisten Unternehmer die AfD inhaltlich ab. Auch diejenigen, die sie wählen wollen. Sie wählen aus Frustration – oder sie wählen gar nicht.« Rechne er die internen Umfragewerte hoch und kalkuliere die erwarteten Nichtwähler mit ein, dann schätzt Ahlhaus: »Die Zahl der politisch heimatlosen Unternehmer und Manager liegt höher als eine Million.« Der emeritierte Soziologe und Elitenforscher Michael Hartmann von der Universität Darmstadt beobachtet: »Spätestens seit der Coronapandemie hat sich das politische Koordinatensystem etlicher Unternehmer verschoben. Menschen, die vom europäischen Binnenmarkt, der Globalisierung und der Zuwanderung profitieren, haben sich vom System entfremdet – besonders von CDU und FDP. Das begann schon unter Merkel und setzte sich unter Merz und Linnemann fort.«
5. Februar – Tagesspiegel
Hinter einer Serie von Angriffen auf bundesweit Hunderte Autos soll Russland stecken. Wie der »Spiegel« berichtet, machen deutsche Sicherheitsbehörden Moskau dafür verantwortlich, dass zuletzt mehr als 270 Fahrzeuge in mehreren Bundesländern beschädigt worden seien. Dabei verstopften die Täter offenbar Auspuffrohre mit Bauschaum und hinterließen an den Tatorten Aufkleber mit dem Slogan »Grüner sein!« und einem Konterfei von Grünen-Kanzlerkandidat und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Attacken gab es in Berlin, Brandenburg, Baden-Württemberg und Bayern. Zunächst war der Verdacht auf radikale Klimaaktivisten gefallen. Viele Medien berichteten. »Bild« sprach bereits von »Klima-Radikalen«, die verantwortlich seien. Nun aber gehen die Behörden von russischer Sabotage aus, heißt es. Die Hinweise darauf hätten sich nach einer Polizeikontrolle im brandenburgischen Schönefeld ergeben.
Im Dezember waren laut Bericht in der Nähe eines Tatorts drei Verdächtige aus Süddeutschland – ein Serbe, ein Bosnier und ein Deutscher – aufgegriffen worden. Bei Wohnungsdurchsuchungen hätten die Ermittler später Dosen mit Bauschaum sowie Laptops und Handys sichergestellt. Bei einem Verhör habe einer der Beschuldigten dann ausgesagt, von einem russischstämmigen Serben zu den Attacken angestiftet worden zu sein. Dem Bericht zufolge soll der Auftraggeber die Männer über den Messengerdienst »Viber« umfassend instruiert haben, wie sie die Sabotageakte ausführen sollen. Außerdem habe er ihnen für jedes beschädigte Fahrzeug eine Belohnung von 100 Euro versprochen. Im Gegenzug sollten sie demnach lediglich Fotos der sabotierten Autos schicken. Mehrere Tausend Euro, offenbar ein Teil des Gesamthonorars, sei bei den Verdächtigen bereits eingegangen, heißt es weiter.
Russische Geheimdienste setzen inzwischen vermehrt auf Amateure aus dem kleinkriminellen Milieu statt auf ausgebildete Spione, schreibt der »Spiegel«. Sicherheitskreise sehen den Angaben zufolge eine gezielte Absicht. Es gehe darum, im Bundestagswahlkampf Hass auf die Grünen und ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck zu befeuern. Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnt bereits seit Längerem vor einer möglichen Einflussnahme Russlands auf die vorgezogene Wahl am 23. Februar.
4. Februar – TAZ
Nur drei Wochen vor der Bundestagswahl hat die autoritär-nationalradikale AfD erneut eine Rekordspende erhalten. 2,35 Millionen Euro erhielt die Partei laut Bundestagsverwaltung von Gerhard Dingler, einem Mitglied der extrem rechten FPÖ aus Österreich. Bei der Parteispende soll es sich um eine Sachspende handeln – 6.395 offenbar bereits gedruckte Plakate sollen bundesweit aufgehängt werden. WDR und NDR hatten zuerst über die Spende berichtet, die nach eigenen Angaben aus dem Privatvermögen des Mannes stammen soll. Bei Dingler handelt es sich um einen langjährigen FPÖ-Landesgeschäftsführer in Vorarlberg. Seine Spende begründete er gegenüber dem ORF mit einem Verweis auf den Ukrainekrieg. Dingler befürchte, dass eine künftige deutsche Regierung Taurus-Marschflugkörper an das von Russland überfallene Land liefern könnte. Sowohl AfD als auch FPÖ positionieren sich überaus russlandfreundlich.
Der Bürgermeister von Dinglers Heimatgemeinde bezeichnete die Spende laut ORF als »dubios«, weil Dingler zuletzt weder politisch noch als Millionär aufgefallen sei. Der aktuelle FPÖ-Landesgeschäftsführer bestätigte unterdessen, dass Dingler noch Parteimitglied sei, er allerdings seit acht Jahren keine Funktion mehr innehabe. Einen Zusammenhang der Spende mit der FPÖ Vorarlberg gebe es nicht. Fragen wirft tatsächlich auch die bei der Bundestagsverwaltung angegebene Adresse auf: Die führt zu einem kleinen, eher unscheinbaren Gewerbegebäude, in dem ein Betrieb für Fernsehtechnik sitzt. Eine Verbindung zu Dingler ist zunächst nicht ersichtlich. Die Bundestagsverwaltung antwortete auf taz-Anfrage, dass die AfD gebeten worden sei, die Beziehung des Spenders zu der Anschrift zu erläutern. Bisher gebe es keine konkreten Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Spende.
Klar ist: Für die AfD ist das eine erneute Rekordspende innerhalb kürzester Zeit: Vor zwei Wochen wurde bereits eine Großspende des Pharmaunternehmers Winfried Stöcker von 1,5 Millionen Euro bekannt. Nur wenige Tage danach bekamen die extrem Rechten 999.999 Euro von dem damaligen Aufsichtsrat der Böttcher AG, Horst Jan Winter. Hier besteht der Verdacht, dass es sich um eine verbotene Strohmannspende handeln könnte, um die wahre Herkunft des Geldes zu verschleiern – die Staatsanwaltschaft Mühlhausen prüft nach Strafanzeigen. Bei der von Winter angegebenen Adresse in Thüringen fand sich nur ein Briefkasten. Während die AfD eine Strohmannspende abstreitet, sind Fragen hierzu weiter ungeklärt. Winter hatte seine Spende ebenfalls unter anderem mit dem Ukrainekrieg erklärt. Im aktuellsten Fall besteht zudem die Frage, ob die umstrittene Schweizer Werbeagentur Goal AG erneut eine Rolle spielt. Die hatte 2017 ebenfalls eine vermeintlich unabhängige Plakatkampagne finanziert – die AfD musste danach wegen illegaler Parteispenden hohe Strafen zahlen. Diesmal soll Spender Dingler auch die Goal AG für eine Wahlkampagne kontaktiert haben. Diese sei aber nur noch in der Schweiz tätig und habe Dingler lediglich Kontakte weitervermittelt. Den Auftrag soll eine Werbefirma aus NRW bekommen haben. Die AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel äußerten sich nicht dazu.
3. Februar – TAZ
Etymologisch geht Kompromiss auf das lateinische compromissum zurück. Das bezeichnet das Versprechen, vor Gericht die Spielregeln zu akzeptieren. Zwei Parteien versichern, dass sie sich dem Urteilsspruch des Richters unterwerfen werden. Wer am Ende trotzdem stumpf über den Gegner herfällt, ist das anfangs hinterlegte Pfand los. Als politischer Begriff ist Kompromiss ein ziviler Ausgleichsmechanismus, give and take. Er ist zwar mit Demokratie assoziiert, zählt aber nicht zu den Wesenskernen der Demokratie, wie Gewaltenteilung, Machtwechsel oder Pluralismus. In Deutschland hat der Kompromiss als Begriff in den letzten 100 Jahren eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bis 1945 bekämpften Deutschnationale ihn als Synonym von Schwäche und glaubten mit Nietzsche: »Nur die halben Naturen suchen einen Kompromiss«. In der Bundesrepublik änderte sich das. Man suchte maximale Distanz zur Kompromisslosigkeit des NS-Regimes.
Willy Brandts Satz »Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss« war zwar demokratietheoretisch fragwürdig, brachte aber die bundesdeutsche Neigung zum Mittleren und die Abneigung gegen Extreme trefflich zum Ausdruck. Gleichzeitig wurde die Mitte zum magnetischen, umkämpften Ort der Politik. Dorthin strebten Union, SPD, Liberale und später auch die Grünen. Die Mitte ist der Ort, um Kompromisse zu schmieden, bei denen nach der Logik des Sowohl-als-auch auch die Verlierer auf ihre Kosten kommen. In der Bundesrepublik herrscht eine ausgeprägte Kompromisskultur, institutionell befestigt durch Bundesrat und Föderalismus. Zentral für das bundesdeutsche Konsenssystem sind die Volksparteien, die als Maschinen interner Kompromissbildung funktionieren. Das Scheitern der Ampel ist ein Vorschein der Post-Volkspartei-Ära: Die Aushandlungsprozesse, die früher in den großen Parteien stattfanden, verlagern sich nun in die Regierung. Die Ampel wird nicht die letzte Regierung gewesen sein, die mit viel Getöse scheitert. In Zeiten des Rechtspopulismus wird die solide Kompromissdemokratie brüchig. Wer »all in« geht, zielt nicht auf Kompromisse, sondern auf Sieg und Unterwerfung. Mit Merz’ Entweder-oder-Ansage scheint die Verachtung des Kompromisses in die bundesdeutsche Politik zurückzukehren.
2. Feburar – TAZ
Nach der Bundestagswahl wird die CDU/CSU zwar die stärkste Fraktion im Bundestag stellen, doch den damit verbundenen Regierungsauftrag kann Kanzlerkandidat Friedrich Merz nicht erfüllen. Er wird daher weichen müssen. Eine schwarz-rote oder schwarz-grüne Koalition will Merz nur anführen, wenn die Koalitionspartner seine Forderungen zur Migrationspolitik mitumsetzen. »Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich«, sagte Merz im Januar. Allerdings verstoßen zum Beispiel die von Merz geforderten Zurückweisungen aller Asylsuchenden an der Grenze gegen EU-Recht. SPD und Grüne haben daher diese Forderung bisher abgelehnt und werden sie auch künftig ablehnen – schon weil sie klug genug sind, sich nicht mit der Justiz anzulegen. Merz wird auch keine Koalition mit der AfD eingehen und sich von ihr nicht zum Kanzler wählen lassen. Seine entsprechenden Beteuerungen glaubt zwar niemand mehr nach dem gebrochenen Versprechen, mit der AfD keine Anträge durchzusetzen. Aber die CDU ist noch nicht skrupellos genug für einen erneuten Wortbruch. Auch Merz, der sich selbst für verlässlich und geradlinig hält, würde wohl nicht so weit gehen.
Selbst wenn die FDP wieder in den Bundestag kommt, ist sie zu schwach, um Merz zur Mehrheit zu verhelfen. Merz kann also keine Regierung bilden – nicht einmal eine Minderheitsregierung, denn auch dafür müsste er erst einmal gewählt werden. Olaf Scholz bliebe also Kanzler, Robert Habeck bliebe Vizekanzler. Rot/Grün/Wissing würde weiter alle Ministerien kontrollieren. Die Gesetzgebung würde – wie seit dem Ampel-Aus – mit wechselnden Mehrheiten erfolgen, oder eben gar nicht. Der CDU/CSU und allen dort, die Minister:innen werden wollen, würde das nicht gefallen. Wenn man eine Wahl gewinnt, will man auch regieren. Deshalb muss die Union im April oder im Mai einen neuen potenziellen Kanzler präsentieren, der bereit ist, auf illegale Manöver zu verzichten und in der Lage ist, mit SPD oder Grünen Kompromisse zu schließen. Zum Beispiel Hendrik Wüst, der NRW-Ministerpräsident.
1. Februar – Spiegel
Am Vorabend des Bundestags-Showdowns zur Asylpolitik soll es nach Informationen des »Stern« zu einer bemerkenswerten Runde gekommen sein. Demnach habe der frühere CDU-Chef Armin Laschet am Donnerstagabend zu einem privaten Treffen in seiner Berliner Wohnung eingeladen. Dabei sollen auch mehrere hochrangige Politikerinnen und Politiker von Union und Grünen anwesend gewesen sein. Laut »Stern« sollen unter anderem die Außenministerin Annalena Baerbock, Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt zu den Gästen gezählt haben. Auf CDU-Seite waren demnach unter anderem Kanzlerkandidat Friedrich Merz und der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn dabei. Das Treffen fand unter dem Motto »Auf ein Glas mit Armin Laschet« statt. Die Einladungen sollen schon vor Wochen verschickt worden sein.
Nach Informationen des »Stern« waren mehrere Dutzend Gäste geladen, darunter auch Nichtpolitiker und Vertreter der FDP. Die Atmosphäre beschrieben Teilnehmende demnach als freundlich und zwanglos. Von einem Strategietreffen könne nicht die Rede sein, hieß es von Beteiligten. Die Runde habe keinerlei politischen Charakter gehabt, sondern sei eine rein private Einladung gewesen. Am Tag nach dem Umtrunk brachte die Union ein Gesetz zur Migrationspolitik in den Bundestag ein, was ihr jedoch trotz der Zustimmung der AfD nicht gelang. Bei der vorherigen Debatte lieferten sich insbesondere auch Abgeordnete der CDU und Grünen einen Schlagabtausch. So gingen sich etwa Außenministerin Baerbock und Thorsten Frei scharf an.
31. Januar – Zeit
Mit dieser Kehrtwende hat vermutlich kaum noch jemand gerechnet: Die Abgeordneten des Bundestags haben den Gesetzesentwurf zum sogenannten Zustrombegrenzungsgesetz abgelehnt. Es wurden 693 Stimmen abgegeben, davon 338 Ja-Stimmen, 350 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen. Zwölf Abgeordnete der Unionsfraktion gaben ihre Stimme nicht ab. Überraschend ist dieses Ergebnis, weil zwei Tage zuvor der Antrag auf schärfere Maßnahmen in der Asylpolitik mit den Stimmen der AfD angenommen worden war. Seitdem wird CDU-Chef Friedrich Merz von Vertretern der SPD, Grünen und Linken Tabubruch vorgeworfen. Auch Angela Merkel kritisierte das »taktische Manöver«". In den vergangenen Tagen haben mehrere Tausend Menschen in zahlreichen Städten spontane Demos unter dem Motto »Wir sind die Brandmauer« organisiert. Die CDU-Parteizentrale in Berlin musste nach der Abstimmung im Bundestag von der Polizei geschützt werden, da sich dort zahlreiche Demonstrierende versammelt hatten. Auch unter CDU-Wählerinnen und -Wählern ist das Vorgehen von Friedrich Merz umstritten: Laut einer aktuellen, repräsentativen Umfrage des ZDF fanden 66 Prozent der befragten Unionswähler die Einbringung des Antrags trotz Stimmen der AfD gut, während 28 Prozent dagegen waren. »Ich kann als ehemaliges Mitglied der Jungen Union und der Jugend für Stoiber sagen, dass ich mich noch nie so sehr für meine politische Herkunft geschämt habe«, kommentierte ein ZEIT-ONLINE-Leser die Ereignisse am Mittwoch im Bundestag. ZEIT ONLINE hat sich vor der Abstimmung im Bundestag an die CDU-Wähler in der Leserschaft gewandt und gefragt, ob sie weiterhin die Union wählen oder sich nun politisch abwenden. Knapp 2.000 CDU-Wähler und Sympathisanten der Union meldeten sich. Die Umfrage von ZEIT ONLINE ist nicht repräsentativ, zeigt aber die unterschiedlichen Perspektiven und Argumentationslinien innerhalb der CDU-Wählerschaft auf. Lesen Sie hier eine Auswahl der Einsendungen.
Für einige CDU-Wählerinnen und -Wähler stellt die Abstimmung über den Antrag mit der Mehrheit der AfD einen Wortbruch dar. Sie seien konservativ, aber mit Rechten Politik zu machen, das ginge nicht, denken viele enttäuschte Wählerinnen. Die CDU/CSU, so berichten etliche, sei für sie nun nicht mehr wählbar. Viele fragen sich, ob die Union ihr »C« im Parteiname nun verloren oder verkauft hätte, welches schließlich für christliche Grundwerte wie Menschlichkeit und Nächstenliebe steht. Beides ist für viele – nun offenbar ehemalige – Wählerinnen und Wähler nicht mit dem harten Anstoß für den Fünf-Punkte-Plan vereinbar, den Merz eingereicht hatte. Ein User kommentiert, die Unionsspitze habe mit dieser Abkehr vom Versprechen der Brandmauer gezeigt, dass man ihr nicht mehr trauen könne. Sie sei alles, aber nicht wertkonservativ.
Einige Teile der CDU-Wählerinnen und -Wähler, die sich auf den Aufruf meldeten, hadern zwar mit dem Vorgehen der CDU, sind sich aber in der Bewertung der Ereignisse unsicher. Viele schreiben, sie würden den Anstoß zu einer strengeren Asyl- und Migrationspolitik durchaus richtig finden, kritisieren aber Merz' Vorgehen als Wahlkampftaktik und die Inkaufnahme der AfD-Zustimmung als falsches Zeichen. Und es gibt jene, die überlegen, sich von der CDU und Merz abzuwenden, da sie die Fokussierung auf das Migrationsthema übertrieben finden. So werde von anderen, zentraleren Problemen in Deutschland abgelenkt: Behördenversagen, Klimawandel, Investitionsstaus. Andere schreiben wiederum, die Union solle das wichtige Thema der Asylpolitik mit den anderen Parteien der politischen Mitte angehen, und sind unschlüssig, wen sie Ende Februar wählen werden.
Inhaltlich und strategisch einverstanden: Diese Haltung wird oftmals in den Einsendungen eingenommen. Sie würden »jetzt erst recht« die CDU wählen. »Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, weil die Falschen zustimmen«, dieser Satz Friedrich Merz' wird immer wieder zitiert. Viele schreiben, das deutsche Sozialsystem sei ihrer Meinung nach überlastet, man könne keine weiteren Asylsuchenden oder Migranten aufnehmen. Es müssten wirtschaftlichere Integrationspläne her und Merz hätte somit alles richtig gemacht. Dass dies mit den Stimmen der AfD geschehen ist, sei ein demokratischer Prozess.
30. Januar – Spiegel
Die frühere Bundeskanzlerin und ehemalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz wegen der Asylabstimmung im Bundestag mit Stimmen der AfD kritisiert. In einer am Donnerstag veröffentlichten Erklärung betont Merkel, dass sie die im November 2024 von CDU-Chef Merz im Bundestag geäußerte Position für richtig halte, dass man Mehrheiten nur mit Parteien der Mitte suchen solle. »Dieser Vorschlag und die mit ihm verbundene Haltung waren Ausdruck großer staatspolitischer Verantwortung, die ich vollumfänglich unterstütze«, erklärt Merkel. Sie fügt jedoch hinzu: »Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen.«
Es sei erforderlich, »dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können«, mahnt Merkel in einem Statement, das sie auf ihrer Website veröffentlichte. Am Mittwoch war ein Antrag von CDU und CSU für einen verschärften Kurs in der Migrationspolitik vom Bundestag mit Stimmen von AfD und FDP angenommen worden. Das geht aus dem Ergebnis der namentlichen Abstimmung hervor, das die Bundestagsverwaltung zur Verfügung stellt . Von der SPD, den Grünen und der Linken gab es keine einzige Stimme für den Antrag. Die Abgeordneten des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) enthielten sich oder stimmten nicht ab. SPD und Grüne kritisierten CDU/CSU und die FDP scharf dafür, den Antrag mit Unterstützung der AfD durchgebracht zu haben. Scholz warf Merz vor, die klare Abgrenzung zu extrem rechten Parteien aufzugeben. »Sie nehmen die Unterstützung der AfD für Ihre rechtswidrigen Vorschläge offen in Kauf«, sagte er in seiner Regierungserklärung.
Scholz mutmaßte auch, die Union könne nach der Wahl eine Koalition mit der AfD eingehen. Merz wies das in seiner Antwort auf den Kanzler als »niederträchtig« und »infam« zurück. »Ich werde alles tun, das zu verhindern.« Der CDU-Chef bekräftigte dennoch, dass er für die Durchsetzung seiner Vorschläge zur Migration die Zustimmung der AfD in Kauf nimmt. Das sei ihm lieber, als »weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land weiter bedroht, verletzt und ermordet« werden. Merz sagte, er suche »keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments«. Und weiter: »Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.« Höhnisches Gelächter im Bundestag war die Reaktion. Der Antrag der Union sieht die Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vor, ist anders als ein Gesetz rechtlich aber nicht bindend. Ein weiterer Antrag der Union zur Sicherheitspolitik wurde mehrheitlich zurückgewiesen. Dass die langjährige Kanzlerin sich nun so deutlich positioniert, wird aus anderen Parteien unterstützt. Die SPD-Chefin Saskia Esken sagte vor Journalisten: »Sie hat offensichtlich den Eindruck gewonnen, sie müsse Friedrich Merz an seine staatspolitische Verantwortung erinnern. Ich bin ihr sehr dankbar dafür.«Merz sagte, er suche »keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments«. Und weiter: »Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.« Höhnisches Gelächter im Bundestag war die Reaktion. Der Antrag der Union sieht die Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vor, ist anders als ein Gesetz rechtlich aber nicht bindend. Ein weiterer Antrag der Union zur Sicherheitspolitik wurde mehrheitlich zurückgewiesen. Dass die langjährige Kanzlerin sich nun so deutlich positioniert, wird aus anderen Parteien unterstützt. Die SPD-Chefin Saskia Esken sagte vor Journalisten: »Sie hat offensichtlich den Eindruck gewonnen, sie müsse Friedrich Merz an seine staatspolitische Verantwortung erinnern. Ich bin ihr sehr dankbar dafür.«
29. Januar – Spiegel
Der Bundestag hat mit Stimmen der AfD für den Fünf-Punkte-Plan der Unionsparteien gestimmt. 348 Abgeordnete haben für den Antrag gestimmt, 344 dagegen. Es gab zehn Enthaltungen. Damit hat sich der Bundestag für mehr Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen ausgesprochen. In der Debatte hatten sich Abgeordnete von Union, FDP und AfD sowie einige fraktionslose Abgeordnete für den Vorschlag ausgesprochen. Das BSW kündigte an, man werde sich enthalten. SPD, Grüne und Linke positionierten sich dagegen. Der zweite Antrag der Union mit umfassenden Reformvorschlägen für eine restriktive Migrationspolitik und zusätzliche Befugnisse der Sicherheitsbehörden fand keine Mehrheit. 190 Abgeordnete stimmten für den Antrag, 509 dagegen, drei enthielten sich.
Nachdem die Abstimmungsergebnisse bekannt gegeben wurden, trat Friedrich Merz, Initiator der Anträge, ans Rednerpult: »Ich will wiederholen, was ich heute Nachmittag gesagt habe: Ich suche in diesem Bundestag keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte unseres Parlaments«, sagte er. Falls es heute keine solche Mehrheit gegeben habe, »dann bedauere ich das«, ergänzte er. Aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken waren höhnisches Gelächter und Zwischenrufe zu hören. Bernd Baumann von der AfD sprach im Anschluss. »Das ist wahrlich ein historischer Moment«, sagte er. Und weiter: »Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen und jetzt stehen Sie hier mit schlotternden Knien und bibbernd und entschuldigen sich«, das sei nicht kanzlerwürdig, sagte Baumann und ergänzte: »Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche.« Hintergrund der Anträge war unter anderem die Messerattacke von Aschaffenburg mit zwei Toten. Danach hatte Merz angekündigt, in dieser Woche Anträge zur Migration in den Bundestag einzubringen. »Und wir werden sie einbringen, unabhängig davon, wer ihnen zustimmt«, hatte Merz betont.
28. Januar – Zeit
Auf den Landstraßen zwischen Berlin und der deutsch-polnischen Grenze hängt schwerer Nebel. Teils maximal 50 Meter Sicht, erst im letzten Moment zeigt sich, was vor einem liegt, ob das eine Kirche ist oder ein Güterzug. Durch den Nebel fahren und darauf vertrauen, dass da nichts auf der Straße liegt, das beschreibt vielleicht auch insgesamt die Lage des Wahlkreises 63, der so vieles von dem hat, was am Osten gut, aber auch kompliziert ist. Der Wahlkreis zieht sich von den östlichen Rändern Berlins bis nach Frankfurt (Oder) und der Grenze zu Polen. 190.000 Einwohner leben hier, teils in ländlichen Regionen, die man ohne Auto nicht erreicht, aber auch im Berliner Speckgürtel. Es gibt die Universitäts- und Grenzstadt Frankfurt (Oder), es gibt Perlen wie Fürstenwalde und Beeskow, aber auch die schönste Malocherstadt Deutschlands, das um Anschluss kämpfende Eisenhüttenstadt. Politisch ist der Wahlkreis schwer berechenbar. Die AfD verlor die Landratswahl 2023 nur knapp mit 48 Prozent gegen den SPD-Kandidaten, andererseits verlor der damalige AfD-Chef Alexander Gauland hier bei der Bundestagswahl 2017 gegen einen CDU-Mann, der Geflüchtete zu Hause aufgenommen hatte.
Was Oder-Spree aber vor allem besonders macht: Hier treffen die große, internationale und die kleine, lokale Politik so sehr aufeinander wie derzeit wohl kaum irgendwo anders. Im Osten des Landkreises liegt die Grenze nach Polen, an der sich die Widersprüche der deutschen Migrationspolitik wie unter der Lupe betrachten lassen. Ganz im Westen erhebt sich das Werk von Tesla in Grünheide, dessen Boss Elon Musk jeden Tag drängender die Frage aufwirft, was man ihm und seinem Geschäftsgebaren um der Arbeitsplätze willen durchgehen lassen muss. Und weil das Weltgeschehen aus der Nähe manchmal ganz anders aussieht als aus Berlin, ist es eben so, dass sich eine CDU-Politikerin gegen dauerhafte Grenzkontrollen ausspricht, während ein SPD-Mann alles dafür tut, dass Tesla und sein Besitzer zufrieden sind. Wie sehr sich Europa zuletzt verändert hat, das können die Einwohner von Frankfurt (Oder) jeden Tag in ihrem Stadtzentrum sehen. Die 250 Meter lange Brücke, die Frankfurt mit dem polnischen Słubice verbindet, beginnt direkt in der Innenstadt. Noch vor zwei Jahren war die Straße, die zur Brücke führt, eine wie jede andere. Heute stehen hier Mannschaftswagen der Bundespolizei, Beleuchtungsballone, ein riesiges Abfertigungszelt, Bürocontainer. Die Grenze ist wieder da, und das zwischen zwei Städten, die sich stolz als gemeinsame Doppelstadt bezeichnen.
Als die Kontrollen im Herbst 2023 wieder eingeführt wurden, da war die Stimmung von Überforderung auch in Frankfurt greifbar. Die Stadt liegt direkt auf der Route vieler Flüchtender aus der Ukraine, es fehlte an Unterbringungsmöglichkeiten, Schul- und Kitaplätzen, psychologischer Betreuung. Auch der heute parteilose und damals noch linke Oberbürgermeister René Wilke warnte, dass die Stadtgesellschaft überfordert sei. Das System drohe »zu platzen«. Seit der Einführung der Grenzkontrollen verringerte sich die erfasste irreguläre Migration in Deutschland tatsächlich. Doch in Frankfurt und Słubice zeigte sich bald auch, wie hoch der Preis dafür ist. Die zweispurige Stadtbrücke ist zu einem Nadelöhr geworden, besonders durch das Zentrum Słubices ziehen sich zu den Stoßzeiten teils kilometerlange Staus. Die grenzüberschreitende Buslinie, die beide Stadtzentren in wenigen Minuten verband, existiert praktisch nicht mehr, weil die Wartezeit im Stau teils bis zu zwei Stunden beträgt. Weil die Situation auf der Autobahn A12 noch schlimmer ist, kommen Pflegekräfte nicht zu ihren Betreuten, bleiben Supermarktkassen unbesetzt, verzichten Unternehmen auf die Expansion über die Grenzen.
27. Januar – Der Freitag
Durch das Ampel-Aus wird der offizielle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode nicht veröffentlicht. Damit das wichtige Thema Armut in Deutschland während des Wahlkampfes trotzdem Beachtung findet, wurde heute der Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz, der in Zusammenarbeit mit der Diakonie Deutschland entsteht, vorgestellt. Das Besondere an diesem Bericht: Er wird von Personen geschrieben, die selbst Armutserfahrung haben. Diese Erfahrungen werden von wissenschaftlichen Studien untermauert, die im Armutsbericht verlinkt sind. Dem Bericht zufolge sind 17,7 Millionen Menschen armutsbetroffen, das betrifft jeden fünften(!) Menschen im Land. Jede siebte Person ist einkommensarm und verfügt über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. 5,7 Millionen Menschen sind von erheblicher sozialer und materieller Entbehrung betroffen. Sie haben beispielsweise nicht genug Geld für angemessene Kleidung und Schuhwerk, besonders im Winter, sind obdachlos oder leiden unter Lebensmittelknappheit. Alleinerziehende und getrennt erziehende Elternteile, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern haben die höchste Einkommensarmut beziehungsweise Armutsgefährdungsquote. Armut ist weiblich, denn Frauen sind stärker betroffen als Männer, hier gibt es bei der Altersarmut einen überdurchschnittlichen Zuwachs, der alarmieren sollte. Kinderarmut in Deutschland ist eines der größten Probleme, denn 14 Prozent der unter 18-Jährigen sind arm! Menschen, die von anderen rassifiziert werden (POC, asiatische und muslimische Menschen), haben ebenfalls ein deutlich höheres Armutsrisiko.
Der Armutsbericht zeigt auf, wie vielfältig das Armutsproblem in Deutschland ist und bietet nicht nur Fakten, sondern auch Lösungsvorschläge, wie die Politik Armut effektiv bekämpfen kann. Betroffene wissen als Experten in eigener Sache sehr gut, was sie brauchen, um einen Weg aus der Armut zu finden. Diese Stimmen kommen in dem Schattenbericht zu Wort. Rüdiger Schuch, Präsident der Diakonie, befürwortet eine Vereinfachung der sozialpolitischen Instrumente, zum Beispiel bei der Antragstellung von Leistungen, und betont, dass es unbedingt notwendig ist, sich als Regierung in der Sozialpolitik an der tatsächlichen Lebenssituation der Betroffenen zu orientieren. Marcel Fratzscher meint, dass aus wissenschaftlicher Sicht der Sozialstaat so umgestaltet werden muss, dass mehr Chancen und Möglichkeiten für Arme entstehen. Er ist für Reformen zugunsten der Menschen und betont, dass diese Reform zwar einmalig kostenintensiv wäre, aber im Nachhinein zu einer Verringerung der Sozialausgaben führen würde. Es müsse ebenfalls Nachbesserungen im Bildungssystem geben, da Deutschland eine ungewöhnlich niedrige soziale Mobilität habe. In Deutschland braucht es fünf Generationen, bis eine armutsbetroffene Familie sich aus der Armut bis in den Mittelstand herausgearbeitet hat!
Es ist wichtig, die Regierenden und die Gesellschaft daran zu erinnern, dass unser Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verankert ist. Es ist ein Skandal, dass Armutsbekämpfung in unserem Land keine Priorität hat! Der Wahlkampf schadet dem gesellschaftlichen Klima durch Verteilungskämpfe auf Kosten der finanziell Schwachen. Fratzscher nutzt dafür die passende Bezeichnung „Sozialstaatspopulismus“. Der Armutsbericht ist ein wichtiges politisches Instrument, um allen Nichtarmutsbetroffenen die Armutssituation in Deutschland zu schildern und dem Populismus entgegenzuwirken. Ich wünsche mir eine sachliche Debatte über Bürgegeldbeziehende. Stattdessen werden der erfolgreichen Förderung von Langzeitarbeitslosen und Bürgergeldempfänger/innen die Geldmittel unsinnig gekürzt. Wenn Fachkräfte gebraucht werden, dann ist es gerade hier wichtig, Geld zu investieren. Die Bürgergeldempfänger/innen sind erwerbslos, weil sie entweder zu gering qualifiziert sind oder gesundheitliche Probleme haben. Statt längerfristig zu planen, wird über „Arbeitsgelegenheiten“ und „Arbeitszwang“ diskutiert. Vielleicht sollten die, die diese Vorschläge machen, den Schattenbericht lesen und sich mit Betroffenen unterhalten, dann blieben uns diese destruktiven „Bürgergelddebatten“ erspart.
25. Januar – Spiegel
Mit Lampen und Lichterketten haben Zehntausende Menschen am Brandenburger Tor in Berlin gegen Rechtspopulismus und für die Demokratie demonstriert. Das „Lichtermeer“ richtete sich gegen ein Erstarken der AfD und anderer rechter Parteien in Europa, gegen die Politik von US-Präsident Donald Trump und den Einfluss des Tech-Milliardärs Elon Musk. Die Polizei sprach von 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Bereits am Nachmittag zogen auch in Köln nach Schätzungen der Polizei etwa 40.000 Menschen durch die Straßen – dort waren nur etwa 5.000 erwartet worden. Viele Plakate richteten sich nicht nur gegen die AfD, sondern ausdrücklich auch gegen den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz (CDU). Merz plant Bundestagsanträge für eine deutliche Verschärfung der Migrationspolitik, für die er eine Zustimmung der rechten Partei in Kauf nehmen will. „Kein Fraktionsgeklüngel mit der AfD!“ und „Niemand mag Nazis außer Merz“ stand daher auf Pappschildern der Demonstranten in Köln geschrieben.
Im bayerischen Aschaffenburg demonstrierten nach Angaben der Polizei rund 3.000 Menschen gegen einen Rechtsruck in Politik und Gesellschaft. Am Mittwochmittag waren in einem Park in der Stadt ein zweijähriger Junge und ein Mann getötet worden. Tatverdächtig ist ein polizeibekannter Flüchtling aus Afghanistan. Der 28-Jährige hätte nach Behördenangaben schon vor geraumer Zeit abgeschoben werden sollen. Die schreckliche Tat führte im Bundestagswahlkampf zu einer Verschärfung der Zuwanderungsdebatte. In Berlin forderte Christoph Bautz, Gründer der Organisation Campact und einer der Initiatoren der dortigen Demonstration, dass die Brandmauer der demokratischen Parteien gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD halten müsse. Er richtete einen direkten Appell an Merz: Wenn dieser bei Migrationsfragen eine gemeinsame Mehrheit mit der AfD suche, dann „bricht in diesem Land ein Aufstand der Anständigen los“, meinte Bautz.
22. Januar – Spiegel
Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, wünscht sich ein TV-Duell mit AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel. Das sagte er bei einer Diskussionsveranstaltung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« . Er machte deutlich, dass er vor der Bundestagswahl lieber mit Weidel diskutieren würde als mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Im Vorfeld der Bundestagswahl treffen der amtierende Kanzler Scholz und der Herausforderer Merz in mehreren Fernsehsendungen aufeinander. Derzeit sind drei Duelle geplant: jeweils eins bei ARD und ZDF, bei RTL und n-tv sowie bei Welt TV. Zuvor hatte es Diskussionen gegeben, ob auch Weidel und Robert Habeck (Grüne) zu diesen Formaten eingeladen werden sollten.
Merz versuchte im Gespräch mit der »FAZ« dem Eindruck entgegenzutreten, dass es zwischen AfD und Union inhaltliche Übereinstimmungen gäbe. Es gebe vielmehr »fundamentale inhaltliche Unterschiede«. Er nannte unter anderem das Verhältnis zu Russland und die Mitgliedschaft in der Nato (hier zu sehen im Video) . Zu Weidels Rede auf dem AfD-Parteitag sagte Merz: »Da kann es Ihnen doch nur eiskalt den Rücken runterlaufen«. »Ich möchte über diese Themen mit Frau Weidel öffentlich diskutieren. Und ich gehe der Diskussion mit der Frau auch nicht aus dem Weg«, sagte Merz. »Darüber werde ich hoffentlich Gelegenheit haben, in diesem Wahlkampf noch mal zu reden – und dann fliegen die Fetzen.« Auf die Gespräche mit dem amtierenden Bundeskanzler hat Merz wenig Lust: »Ich bin nicht wirklich begeistert davon, dass wir diese Fernsehdiskussionen führen und ich da dreimal das Vergnügen habe, mit Olaf Scholz ein Duell zu führen«, sagte Merz. Laut Merz denkt man darüber nach, was man an den drei Sendungen mit Scholz ändern könne. »Mit Olaf Scholz wird's mir schon zur ersten Hälfte der ersten Sendung langweilig«, sagte Merz.
Falls es zu einem Duell zwischen Merz und Weidel kommt, könnte das möglicherweise bei Welt TV übertragen werden. Jan Philipp Burgard bot als Chefredakteur der Welt-Gruppe seinen Sender als Gastgeber an: »Welt TV als Debattenmedium richtet das Duell jederzeit gerne aus!« Der Sender hatte bereits im vergangenen Herbst ein Format mit Weidel und Sahra Wagenknecht (BSW) ausgestrahlt.
16. Januar – FAZ
Den Wählern sind etwa sechs Wochen vor der Bundestagswahl zwei Themen am wichtigsten: Zuwanderung und Flucht einerseits und die Lage der Wirtschaft andererseits. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Meinungsumfrage unter Deutschen von 18 Jahren an, die am Donnerstagabend in der ARD veröffentlicht wurde. Erhoben wurden die Daten Anfang der vergangenen Woche von infratest dimap. Die Befragten konnten dabei zwei Themen nennen, um die sich die nächste Bundesregierung vordringlich kümmern soll. 37 Prozent der Deutschen sehen demnach in dem Thema Zuwanderung und Flucht eines der beiden wichtigsten politischen Probleme, das ist ein Anstieg um 14 Prozentpunkte im Vergleich zur Erhebung Anfang Dezember. Fast ebenso viele (34 Prozent) sagen das von der Wirtschaft. Dieses Thema ist in der Wahrnehmung der Wähler damit weniger dringlich als noch vor einem Monat, als 45 Prozent der Befragten es als eines der beiden wichtigsten Themen nannten.
Auf den weiteren Plätzen folgen mit einigem Abstand die Themen Krieg und Frieden, Umwelt und Klima sowie soziale Ungerechtigkeit. Auch konkrete politische Entscheidungen wurden den Befragten vorgelegt. Besonders hohe Zustimmung erntet der Vorschlag, steuerfreie Zuschläge für Überstunden von Vollzeitbeschäftigten einzuführen; für mehr als drei Viertel (78 Prozent) würde diese Maßnahme in die richtige Richtung gehen. Staatliche Hilfen für Unternehmen, die in Deutschland investieren, befürworten sieben von zehn Deutschen (71 Prozent). Zwei Drittel der Befragten sprechen sich für eine Erhöhung des Mindestlohnes von derzeit 12,82 Euro auf 15 Euro aus. Für eine knappe Mehrheit (53 Prozent) würde auch eine allgemeine Senkung von Steuern für Unternehmen in die richtige Richtung gehen; gut jeder Dritte (35 Prozent) sieht das anders. Knapp jeder Zweite (48 Prozent) spricht sich für die Abschaffung der CO2-Abgabe für die Nutzung fossiler Brennstoffe aus; vier von zehn (39 Prozent) sind für deren Beibehaltung.
Zwiegespalten sind die Deutschen beim Vorschlag einer staatlichen Kaufprämie für in Deutschland produzierte E-Autos: Für 44 Prozent geht dieser in die richtige Richtung, für 45 Prozent in die falsche. Mehrheitliche Ablehnung erfährt die Forderung, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufzuheben: Sechs von zehn Deutschen (61 Prozent) lehnen das ab; gut jeder Vierte (28 Prozent) stimmt dieser Forderung zu.
11. Januar – Zeit
Sechs Wochen vor der Bundestagswahl zieht über der Union eine gewisse Ratlosigkeit auf. Dass diese Fragezeichen seit geraumer Zeit wachsen, liegt auch daran, dass etwas anderes nicht wächst, bestenfalls stagniert: die eigenen Umfrageergebnisse. Bei 30 plus ein bisschen ist für CDU und CSU der Deckel drauf. Höher wollen die Zustimmungswerte einfach nicht klettern. Vor nunmehr zwei Monaten ist die Ampelkoalition implodiert. Ein beispielloser Vorgang, rühmte sich die Bundesrepublik doch stets ihrer Stabilitätskultur. Man ist schließlich nicht in Italien, wo Regierungen kommen und gehen wie die Jahreszeiten. Den Nachweis – den zu führen Aufgabe der größten Oppositionspartei gewesen wäre –, dass diese Bundesregierung regierungsunfähig ist, hat Olaf Scholz gleich selbst erbracht. Allein: Bei der Union zahlt das nicht ein. Freitag und Samstag berät die CDU-Spitze noch mal in Hamburg. Der Parteivorstand beschließt auf seiner Klausur ein Papier zur inneren Sicherheit und eines zur Wirtschaft, für eine Agenda 2030 – die Anleihe bei der Schröder-Reform Anfang des Jahrtausends ist bewusst gesetzt. Die Stoßrichtung ebenfalls: mehr fordern, weniger fördern, Entlastungen für die arbeitende Mitte, runter mit den Steuern, auch für Unternehmen, weniger Bürokratie. Am Samstagmorgen spricht die Partei zudem mit dem Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, über die Großthemen Sicherheit und Migration. Da habe man »eine Stecknadel fallen hören«, heißt es in der CDU, so gebannt habe die Parteispitze den Ausführungen des Behördenchefs gelauscht.
Die Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach macht der Partei in der Vorstandssitzung noch mal Mut: Sie messe die Union eher fünf Prozentpunkte höher als die meisten anderen Demoskopen, nämlich bei 35. Dafür, dass das große Stimmungsplus derzeit in den meisten Umfragen ausbleibt, macht die CDU intern auch die überdrehten Debatten der vergangenen Wochen verantwortlich. Während der eigene Parteichef zuletzt eher abgetaucht wirkte, bespielte die AfD sämtliche Kanäle – Elon Musk und der Welt am Sonntag sei Dank. Unterdessen kann die Union parallel auch nicht von der Selbstzerfleischung lassen: Markus Söder und Daniel Günther, die Ministerpräsidenten aus Bayern und Schleswig-Holstein, überziehen sich öffentlich mit Geringschätzung und fetzen sich in der schwarz-grünen Koalitionsfrage.
Kandidat, Streit, Konkurrenz – oberflächlich lässt sich das ausbleibende Wachstum wohl so erklären. Aber der Verdacht bleibt, dass die Ursachen tiefer gehen, dass vielmehr die Politikvorschläge der CDU teils sehr weit hinter ihrer neuen Entschlossenheitsrhetorik zurückfallen. Vier Beispiele: Viel redet die Union über die Not der Bundeswehr. Während die Grünen aber eine konkrete und problemgerechte Zahl fordern – 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung –, drückt sich die Union vor Klarheit. Die Konservativen wollen vage bleiben, nennen lediglich das Zwei-Prozent-Versprechen der Nato-Staaten als eine »Untergrenze«. Dass dem gesetzlichen Rentensystem wegen der demografischen Alterung der Kollaps droht, hat man bei der CDU wohl erkannt. In ihrem neuen Grundsatzprogramm wagt sie deshalb eine seltene Übung in schmerzlicher Wahrhaftigkeit: Die Lebensarbeitszeit müsse mit der Lebenserwartung wachsen, heißt es dort. Wenngleich mit der Einschränkung, nur für die, die noch können. Im Wahlprogramm ist davon keine Rede mehr, stattdessen will die Union das Renteneintrittsalter von 67 Jahren weiter garantieren. Babyboomer sollen mit einer »Aktivrente« mit steuerlichen Anreizen zum Weiterarbeiten animiert werden: Wer kann und will, soll auch im Alter arbeiten dürfen, bis 2.000 Euro steuerfrei. Ob das die Kassen entlastet?
Das Bürgergeld will die Union am liebsten ganz abreißen, den Eindruck vermittelt sie wenigstens gern. In ihrem Agendapapier fokussiert sie sich dabei aber auf zwei Aspekte: den Namen und die Totalverweigerer. An die grundsätzliche Höhe des Sozialniveaus und sämtlicher Transferleistungen wagt sie sich nicht ran. Das ist viel zu heikel. Auch wenn man hier vielleicht sparen könnte und eine Absenkung der Leistungen ein mächtiger Hebel ist, das Lohnabstandsgebot zu garantieren. Und schließlich: Die Union will mittlere und geringe Einkommen entlasten, in mehreren Schritten die Einkommensteuer senken. Nur: Wer wenig verdient, zahlt relativ wenig Steuern. Das Potenzial für spürbare Entlastungen ist entsprechend gering. Was die Löhne der arbeitenden Mitte wirklich drückt, sind die steigenden Sozialabgaben, erst zum Jahreswechsel ist die gesetzliche Krankenversicherung noch mal teurer geworden. Nur an dieses de facto Flat-Tax-System wagt man sich auch nicht ran. Eine große Reform der gesetzlichen Sozialversicherungen, ein Vorschlag, der Entlastung und Alterssicherung sozial zusammenbringt, wäre aber eine echte Agenda, eine Jahrhundertreform. Auch aus diesem Grund verharren die Zustimmungswerte der Union. Allerdings sind die Konservativen mit dem ausbleibenden Wachstum im Übrigen nicht allein. Zuletzt zeigte der Trend für AfD und Grüne nach oben, aber allenfalls mikroskopisch. Der Ampelschock scheint also vor allem eins bewirkt zu haben: Zutrauen fehlt allenthalben. Zwischen Regierten und Regierenden klafft das Misstrauen.
9. Januar – Zeit
Die Bundestagsverwaltung beschäftigt sich mit dem geplanten Gespräch von Elon Musk mit der AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel auf X. Sie wolle prüfen, ob es sich dabei um eine Beeinflussung des Wahlkampfs und um eine illegale Parteispende handle, schrieb die Verwaltung. Zunächst hatte die Rheinische Post berichtet. Die Organisation Lobbycontrol hat den Vorwurf möglicher verdeckter Wahlkampfspenden erhoben. Das Gespräch werde auf X voraussichtlich deutlich stärker verbreitet als Beiträge anderer Nutzer, schrieb die Organisation. »Insofern kann man hier durchaus von politischer Werbung sprechen, denn die Plattform X verkauft eine solche Reichweite normalerweise für sehr viel Geld.« Weidels Sprecher sagte, es sei ein legitimes »unabgesprochenes und offenes Gespräch«. Der Experte für die Regulierung von Onlineplattformen beim Verband European Digital Rights (EDRi), Jan Penfrat, sagte, das Gespräch verstoße nur unter bestimmen Bedingungen gegen den europäischen Digital Services Act (DSA): Wenn Musk seine Plattform dazu nutzen würde, bestimmten politischen Stimmen mehr Sichtbarkeit zu geben – oder wenn illegale Aussagen während des Gesprächs fallen würden.
Auch Bundeswirtschaftsminister und Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck sagte, besorgniserregend sei nicht das Gespräch an sich, sondern die Funktionsweise von X. Dass Musk und Weidel miteinander redeten, sei ihm erstens egal und zweitens kein Problem, sagte er den Sendern RTL und n-tv sowie der Welt. Wichtiger sei eine andere Frage: »Sind die Algorithmen, die die Plattform X benutzt, so ausgerichtet, dass es einen einseitigen Vorteil für bestimmte Inhalte gibt?«, sagte er. Ob es um die Inhalte der AfD oder von Elon Musk gehe, sei dabei »im Moment schwer auseinanderzuhalten«. In diesem Fall hätte die AfD einen »geldwerten Vorteil«, sagte Habeck. »Das wäre dann Parteienfinanzierung, in diesem Fall wahrscheinlich illegale Parteienfinanzierung.« Er forderte, auch unabhängig vom Wahlkampf müsse transparent gemacht werden, mit welcher Logik Plattformen wie X funktionieren, die darüber entscheiden, was Nutzern prominent angezeigt wird. Musk und Weidel wollen an diesem Donnerstagabend auf X öffentlich miteinander sprechen. Dabei solle es um die aktuelle politische Lage mit Blick auf die Bundestagswahl am 23. Februar gehen. Musk wirbt seit einiger Zeit für die AfD und andere rechte Gruppierungen in Europa.
28. Dezember – Zeit
Tesla-Chef Elon Musk mischt sich weiter in den deutschen Wahlkampf ein: Schon kurz vor Weihnachten postete er auf X, nur die AfD könne »Deutschland retten«, und beschimpfte Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg als »unfähigen Narr«. Nun legt er in der Zeitung Welt am Sonntag nach und begründet seine Unterstützung für die AfD in einer Art Gastbeitrag noch einmal ausführlicher. Das sorgt für Widerspruch, auch innerhalb der Welt am Sonntag. Eva Marie Kogel, die bisherige Chefin des Meinungsressorts von Welt und Welt am Sonntag, habe »nach Andruck« ihre Kündigung eingereicht, teilte sie auf Musks Plattform X mit. Auch eine Reihe anderer Redaktionsmitglieder soll sich nach Angaben des Spiegels kritisch dazu geäußert haben. Der Redaktionsausschuss soll sich von der Veröffentlichung distanziert haben: Es handle sich demnach um eine als Gastbeitrag getarnte Wahlwerbung für die in Teilen gesichert rechtsextreme Partei AfD.
In einem gemeinsamen Statement des noch aktuellen Welt-Chefredakteurs Ulf Poschardt und seines Nachfolgers Jan Philipp Burgard gegenüber der Nachrichtenagentur dpa heißt es dazu: »Die aktuelle Diskussion um den Text von Elon Musk ist sehr aufschlussreich. Demokratie und Journalismus leben von Meinungsfreiheit.« Dazu gehöre es, sich auch mit polarisierenden Positionen auseinanderzusetzen und diese journalistisch einzuordnen. »"Wir werden Die Welt noch entschiedener als Forum für solche Debatten entwickeln.«
Die Welt am Sonntag hat Musks Beitrag nicht isoliert veröffentlicht, sondern ihm einen Text von Burgard zur Seite gestellt, der Musk zunächst als »das größte unternehmerische Genie unserer Zeit« darstellt. Er bezeichnet dann zwar Musks Diagnose als »korrekt« – dessen »Therapieansatz, nur die AfD könne Deutschland retten«, hingegen als falsch. In seinem Beitrag argumentiert Musk, Deutschland habe es sich »in der Mittelmäßigkeit zu bequem gemacht«. Er behauptet: Die AfD sei die einzige Partei, die einen Weg für »mutige Veränderungen« eröffne. Argumente dafür will er teils im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Wiederbelebung erkennen, aber auch rund um Fragen der Zuwanderung und nationalen Identität und in der Energiepolitik. Dass die AfD rechtsextrem sei, bezeichnete er als falsch und begründete dies allein damit, dass die AfD-Vorsitzende Alice Weidel »eine gleichgeschlechtliche Partnerin aus Sri Lanka« habe. Allerdings ist die AfD in mehreren Bundesländern bereits als gesichert rechtsextremistisch eingestuft worden, auch das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht die Partei als rechtsextremistischen Verdachtsfall. Und Musk hat nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland wirtschaftliche Interessen. Er eröffnete in der Nähe von Berlin 2022 eine große Fabrik seines Elektroautokonzerns Tesla. Parallel dazu ist er nach dem Kauf der Plattform X immer wieder mit dem ehemaligen EU-Binnenkommissar Thierry Breton in Konflikt geraten – unter anderem wegen EU-Vorgaben zur Moderationspraxis der Social-Media-Plattform unter dem Digital Services Act. Die Regulierung der EU lehnt auch die AfD ab.
Elon Musk hatte sich zuvor massiv in den US-amerikanischen Wahlkampf eingemischt, Donald Trumps Kampagne finanziell und persönlich massiv unterstützt. Der designierte US-Präsident hat ihn nach seiner Wahl als Berater für Regierungsausgaben berufen. Auch in Großbritannien gibt es Anzeichen dafür, dass Musk im Wahlkampf mitmischen will: Der Rechtspopulist Nigel Farage hatte berichtet, er verhandle mit Musk über Spenden an seine Partei.
20. Dezember – Zeit
Die CSU fordert nach der Bundestagswahl eine grundlegende Reform des Grundrechts auf Asyl. »Wir müssen die Migration wirksam begrenzen. Der individuell einklagbare Anspruch auf Asyl, der muss umgewandelt werden in eine objektive Garantie«, sagte Parteichef Markus Söder der Nachrichtenagentur dpa. Deutschland müsse künftig selbst entscheiden können, wie viele Menschen kommen und hier bleiben könnten. Es gehe um eine »grundlegende Änderung«, sagte der bayerische Ministerpräsident. »Nicht jeder aus der Welt darf sich hier einklagen oder kann sich hier einklagen, sondern genau der umgekehrte Weg ist es. Deutschland muss selbst entscheiden können durch Regierung, durch Parlament, wie viele Menschen wir aufnehmen können.«
Das CSU-Wahlprogramm soll im Januar als Ergänzung zum gemeinsamen Unionsprogramm vorgestellt werden. Voraussichtlich am 23. Februar wird der Bundestag neu gewählt. Eine Umsetzung seines Vorschlags würde dazu führen, dass Deutschland »endlich« die Zuwanderung gut und vernünftig organisieren könne, argumentierte Söder: »Arbeitsmigration, die wir brauchen, und Flucht-Migration, denen wir helfen können. Aber wir können nicht der ganzen Welt allein helfen.« Laut dem Grundgesetz ist das Asylrecht bisher ein sogenanntes individuelles Recht. Das bedeutet, dass die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis nicht quantitativen oder finanziellen Vorbehalten untergeordnet werden darf.
19. Dezember – Handelsblatt
FDP und Linke haben sich grundsätzlich zu einem von der SPD vorgeschlagenen Fairnessabkommen für den Wahlkampf bereiterklärt. „Als Freie Demokraten haben wir großes Interesse an einem sauberen Wahlkampf“, sagte der designierte FDP-Generalsekretär Marco Buschmann der Deutschen Presse-Agentur. Gleichzeitig appellierte er an Union und SPD, in den Gesprächen darüber Einigungsbereitschaft zu zeigen. „Wenn SPD und Union das Anliegen ernsthaft teilen, sollten sie es weniger zur öffentlichen Profilierung nutzen, sondern mehr direkt miteinander in der Sache sprechen“, sagte Buschmann. „Wenn nicht mal das Fairnessabkommen fair verhandelt wird, lässt das sonst nichts Gutes für den Wahlkampf ahnen.“ Linken-Bundesgeschäftsführer Janis Ehling sprach sich ebenfalls für eine gemeinsame Selbstverpflichtung für einen fairen Wahlkampf aus. „Für mich ist wichtig, dass es keine Rechtfertigung für Gewalt, für menschenverachtende Inhalte und Lügen gibt“, sagte er der dpa. „Angriffe auf politische Gegner brauchen schon eine klare, auch mal kantige Sprache. Aber es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden sollten.“ Natürlich sei eine solche Vereinbarung aber nur dann etwas wert, wenn man sie auch ernst nehme.
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch hatte bereits im November ein Abkommen vorgeschlagen, mit dem Hass, Hetze und Falschinformationen im Wahlkampf unterbunden werden sollen. Am vergangenen Freitag haben nach dpa-Informationen die Generalsekretäre von SPD, CDU, CSU, Grünen, FDP, Linke und BSW über einen ersten Entwurf beraten. Die AfD war als einzige Partei nicht eingeladen. Die Debatte über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag war dann von persönlichen Angriffen geprägt. Union und SPD warfen sich gegenseitig vor, Falschinformationen zu verbreiten. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz wies einerseits den Vorwurf der SPD zurück, CDU und CSU wollten die Renten kürzen. Andererseits prangerte der CDU-Chef an, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schweigend in EU-Konferenzen sitze. Das sei „zum Fremdschämen“. Das wiederum erwiderte der Kanzler mit den Worten: „Fritze Merz redet Tünkram.“ Das plattdeutsche Wort bedeutet so viel wie dummes Zeug. In dem jüngsten Entwurf für das Abkommen, der in dieser Woche von der SPD zusammengeführt und verschickt wurde, heißt es nach dpa-Informationen dennoch: „Wir debattieren im Respekt voreinander, verzichten auf persönliche Herabwürdigungen oder Angriffe auf das persönliche oder berufliche Umfeld von Politikerinnen und Politikern.“
Das Abkommen soll sich gegen extremistische Äußerungen, gezielte Desinformation, die Störung von Wahlkampfveranstaltungen und Beschädigung von Plakaten richten. Darin soll auch die Kennzeichnung von mit Künstlicher Intelligenz generierten Inhalten und der Verzicht auf sogenannte Deepfake-Technologien vereinbart werden. „Es ist wichtig, dass von allen Seiten keine Fake News, keine Lügenmärchen erzählt werden“, hatte SPD-Chefin Saskia Esken der dpa am Mittwoch gesagt. „Und wenn das mal passiert, dann muss man die eben auch zurückweisen.“
15. Dezember – Spiegel
Erinnern Sie sich noch an »Eine unbequeme Wahrheit«? Der Titel des bald 20 Jahre alten Katastrophen-Dokumentarfilms von Al Gore wirkte lange ein wenig wohlfeil. Klar, unbequem war die Wahrheit über die Klimakrise stets in dem Sinn, welche Folgen sie nahelegt: lukrative Geschäftsmodelle mit fossilen Brennstoffen zu beenden und sich in unserer Gesellschaft tief verankerte Lebensweisen abzugewöhnen. Aber zumindest herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass die Klimakrise existiert. Das Problem ernst zu nehmen, erschien lange als die unstrittige Haltung der gesellschaftlichen Elite, auch wenn sie nicht immer so konsequent handelte, wie Fachleute es für sinnvoll gehalten hätten. Jetzt aber wird die Klimawahrheit wirklich unbequem – auch für Menschen, die normalerweise wählen dürfen, welchen Problemen sie sich stellen. In den Hügeln von Los Angeles brennen die Villen der Promis. Von seiner Trauer um das verkohlte Haus und die Nachbarschaft, wo seine Kinder aufwuchsen, erzählt Klimaforscher Peter Kalmus in der »New York Times« .
Genau wegen der Sorge um dieses Szenario sei seine Familie vor zwei Jahren der extremen Dürre Südkaliforniens entflohen – nach North Carolina, nur um vor einigen Monaten mit Tropensturm »Helene« festzustellen, dass das aufgeheizte Meer seine Zerstörungskraft inzwischen weit landeinwärts schicken kann. »Kein Ort ist mehr wirklich sicher«, folgert Kalmus. Erste Schätzungen der in Los Angeles verbrannten Vermögenswerte reichen von 50 bis 150 Milliarden Dollar. Am oberen Ende würde dieses einzelne Ereignis schon fast der Hälfte der globalen Schadensbilanz durch Naturkatastrophen des Vorjahres entsprechen – der Großteil davon nicht versichert, weil die Versicherungsunternehmen dieses Risiko inzwischen kaum noch übernehmen wollen. Sie haben begriffen, dass Wetterextreme durch den Klimawandel häufiger und heftiger werden.
Passend zur Situation hat in dieser Woche der Klimawandeldienst des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus einen Bericht veröffentlicht, laut dem 2024 die Erderwärmung erstmals über die 1,5-Grad-Marke gestiegen ist. Taugen diese Beobachtungen und die Bilder von der verrauchten Metropole Los Angeles sowie eine verschobene Oscarnominierung als Weckruf, als Ansporn zum Umsteuern, wie Peter Kalmus hofft? Ein wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Elite hat längst einen neuen, zynischen Umgang mit der Klimakrise gefunden. Chefmeinungsmacher Elon Musk etwa versucht, die Brände in Kalifornien mit einer angeblichen Minderheitenförderung in der Einstellungspolitik der kalifornischen Feuerwehr zu erklären. Und den absurden Griff nach Grönland begründet Trumps designierter nationaler Sicherheitsberater Mike Waltz mit den Worten: »Hier geht es um natürliche Rohstoffe, da sich die polaren Eiskappen zurückziehen …, um Öl und Gas.« Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen in diesen Zeiten fürchten, dass ihre Arbeit wirkungslos, vielleicht sogar unmöglich wird. Es ist ein Spiel mit Feuer und Eis, ein Spiel mit hohen Risiken und hohen Gewinnen. Die fossilen Geschäfte setzen sich fort und noch sind die Verteilungskämpfe um die entstandenen Schäden irgendwie auszuhalten oder lassen sich auf Sündenböcke schieben. Wie sehr sich dieses Muster des Klimaopportunismus auch in Deutschland durchsetzt, ist im Wahljahr noch offen.
Ein Klimawahlkampf wie 2021 nach der Ahrtalflut wird es trotz der sich aktuell überschlagenden Ereignisse wohl kaum. Eher ein Wettbewerb darum, sich von vermeintlicher »grüner Ideologie« abzugrenzen – auch die Grünen selbst mühen sich, den Eindruck zu zerstreuen, sie hätten etwas damit zu tun. Die inoffizielle Leitschnur: Nie wieder Heizungsgesetz! So wird es allerdings schwierig, den offiziell noch als rechtsverbindlich geltenden Anspruch auf einen Stopp des Ausstoßes von Treibhausgasen zu erfüllen. Immerhin, so eine erste Schätzung zur deutschen Klimabilanz 2024, ist der einfache Teil der Energiewende schon großteils geschafft: für unseren Strom auf das Verbrennen von Kohle zu verzichten. Wenn die übrigen Meiler in den kommenden Jahren erlöschen, bleiben noch Öl und Gas als Anheizer der Krise. Verbrennungsmotoren und Gaskessel zu ersetzen, ist jedoch ungleich konfliktträchtiger als der Verzicht auf Kohle. Es würde leichter fallen, wenn dann zumindest der erneuerbare Strom günstig zu bekommen wäre.
11. Dezember – TAZ
Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Mittwoch seine eigene Abwahl eingeleitet und bei Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Vertrauensfrage beantragt. Mit einem dürren Schreiben, in dem es heißt: „Gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Montag, dem 16. Dezember 2024, hierzu eine Erklärung abzugeben.“ Der Inhalt ist etwas irreführend. Denn dem Kanzler von der SPD geht es nach dem Auseinanderbrechen der Ampelkoalition darum, dass die Mehrheit der Abgeordneten ihm gerade Nicht das Vertrauen ausspricht. Scholz sagte am Mittwochnachmittag im Bundeskanzleramt, er werde, wenn die Abgeordneten seinem Kurs folgten, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch am Montagnachmittag vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Dann könnten die Bürger:innen am 23. Februar ein neues Parlament wählen. „Das ist mein Ziel.“ Die Sitzung am Montag soll um 13 Uhr beginnen, den ersten Aufschlag will Scholz also selbst machen. Was er sagt, dürfte sich an den Leitplanken orientieren, die er am Mittwoch erneut im Kanzleramt einpflanzte: Es ginge bei der Bundestagswahl um die „großen Fragen“, nämlich Investitionen in die Zukunft, die Sicherung von Arbeitsplätzen, stabile Renten und ein gerechter Frieden in der Ukraine, „ohne dass Deutschland in den Krieg hineingezogen wird“. Anschließend folgen 90 bis 120 Minuten Aussprache. Die Abstimmung ab 15 Uhr dürfte dann wohl nur noch eine Formalie sein. Denn die beantragte namentliche Abstimmung dürfte verhindern, dass der Kanzler in großem Umfang ungebetene Leihstimmen etwa aus den Reihen der AfD erhält. Scholz' Sprecher Steffen Hebestreit bestätigte am Mittwoch in der Bundespressekonferenz, dass Scholz davon ausgehe, die Abstimmung zu verlieren. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass der Kanzler aus den Reihen der Opposition eine größere Anzahl von Stimmen erhalte.
Falls die Abgeordneten Scholz das Vertrauen entziehen – und das ist der Fall, wenn er weniger als 367 Ja-Stimmen erhält – kann der Bundespräsident den Bundestag binnen einer Frist von 21 Tagen auflösen. Innerhalb von 60 Tagen nach Auflösung des Bundestags muss dann neu gewählt werden. Damit die Wahl auf den 23. Februar fällt, darf Steinmeier das Parlament frühestens am 25. Dezember in den Ruhestand schicken. Wahrscheinlich wird er also die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nutzen, wenn die Parlamentarier:innen eh im Urlaub sind. Bevor es so weit ist, warb Scholz am Mittwoch aber noch einmal um Mehrheiten für liegengebliebene Gesetze. Und zwar für die Erhöhung von Kindergeld und -zuschlag, für steuerliche Entlastungen, für die Sicherung des Deutschlandtickets und eine Senkung der Strompreise. Dieser Aufruf „zum Schulterschluss der Demokraten“ richtet sich vor allem an die Union. Scholz' Vorschlag die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel zu senken, ist dagegen wohl als Wahlkampf zu betrachten. Durchgerechnet sei diese Idee, wie ein Sprecher von Finanzminister Jörg Kukies (SPD) am Mittwoch einräumte, noch nicht.